Soviel sei vorweggenommen — und das wird so schnell keiner der Anwesenden bestreiten: Es war das erhoffte, ganz besondere Konzerterlebnis, für das wir ein sehr spezielles Programm gebucht hatten, das in dieser Zusammenstellung nirgendwo sonst und so schnell auch nicht wieder zu erleben sein wird. Aber der Reihe nach.
Nach einer stürmischen Begrüßung durch Szene-Original, Farbspezialist, Modepapst und ROCKS-Mitarbeiter Manni Eisenblätter gehört die Bühne zunächst REDS’COOL. Die hartnäckige Band aus dem russischen Sankt Petersburg hat in den vergangenen Jahren eine starke Präsenz auf deutschen Konzertbühnen gezeigt — einhergehend mit etlichen personellen Wechseln und einer musikalischen Entwicklung, welche die 2009 von Gitarrist Sergey Fedotov gegründete Formation mittlerweile ausgesprochen schlagkräftig zeigt.Ihr breitwandiger Hardrock hat sich eingependelt in der Schnittmenge aus Whitesnake zur Zeit von 1987 und den neueren Pretty Maids, was in der am frühen Freitagabend bei hochsommerlichen Temperaturen zunächst noch moderat gefüllten Halle gut ankommt: weit mehr als ein Achtungserfolg für Bandleader Fedotov, Sänger Slava Spark, Gitarrist Ilya Smirnov, Bassist Dmitry Pronin sowie Drummer Andrey Kruglov, denen einzig ein von Anfang bis Ende tadelloser Sound zu wünschen gewesen wäre. Wer sich nochmal vom Wohnzimmer aus ein Bild von der Band machen möchte, kann dies mit der Beilagen-CD aus Heft 65 (04/2018) tun, auf der wir gleich fünf Stücke der Band präsentieren.
Schon als THE BREW am frühen Mittag in der Turbinenhalle zum Soundcheck ankommen, wirkt die Stimmung in der Band nachdenklich und aufgewühlt. Schnell wird klar, weshalb: Ein ernster familiärer Notfall hat sich zugetragen, der das Power-Trio aus dem nordenglischen Grimsby dazu zwingt, bereits kurz nach seiner späteren Show zurück ins Krankenhaus seiner Heimatstadt zu fahren. Dass die Band unter diesen traurigen Umständen die Reise nach Oberhausen überhaupt angetreten hat, kann Jason Barwick sowie Tim und Kurtis Smith gar nicht hoch genug angerechnet werden.
Als sie schließlich auf der Bühne stehen und mit ›Repeat‹ in ihren Set mit Songs ihrer letzten drei Studioalben einsteigen, ist von den Begleitumständen nichts zu spüren: Die nächste Dreiviertelstunde über versinken The Brew ganz im Augenblick ihrer Musik. Ihr kraftvoller, latent psychedelischer Heavy-Rock ist schwer überhörbar in den mystischen Siebzigern verwurzelt und doch alles andere als rückwärtsgewandt. Auch wenn die Blicke meist auf Sänger und Ausnahmegitarrist Jason Barwick gerichtet sind, der mit geschmackvollen Sounds und psychedelisch umwölkten Improvisationsausbrüchen die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist es längst die Band als Kollektiv, die das Publikum mit ihrer ungezügelten Spielfreude packt und im Fluss ihrer höchst intensiven Musik mitreißt. Immer wieder toll!
Hochstimmung ohne Hitzefrei
Für das erste ganz große Stimmungshoch im Auditorium sorgen THUNDER. Die hatten explizit darum gebeten, nicht vom Kollegen Eisenblätter angesagt zu werden und staunen nicht schlecht, als »der laute Mann im gelben Hemd« plötzlich doch vor ihnen auf die Bühne huscht. Es ist Zeit für die Ziehung der Gewinner der Verlosungsaktion, an der jede Eintrittskarte mit dem Abriss teilnimmt. Die Temperatur auf der Bühne ist trotz Kühlung mittlerweile unangenehm heiß, und die Stimmung bei den ungeduldig vom Rand aus mit umgeschnallten Instrumenten das Spektakel beobachtenden Traditions-Hardrockern droht zu kippen — bis per Los ein Kühlschrank seinen Besitzer wechselt und das Gerät in schönster Waynes World-Manier ins Publikum gereicht wird, was nicht nur bei der Band für erhebliche Erheiterung sorgt.
Nach dem traditionellen ›Thunderstruck‹-Intro geht es für sie dann endlich los. Die Briten, die live ohnehin nie einen schlechten Tag zu haben scheinen, präsentieren sich in absoluter Bestform. Zwar steigen sie wie in den letzten Jahren üblich mit ›Wonder Days‹ in ihren einstündigen Auftritt ein, doch im Unterschied zu den Headliner-Shows im Januar, wo ihre Setliste zu fast zwei Dritteln aus Songs ihrer jüngsten Alben Wonder Days und Rip It Up bestand, setzen sie fast ausschließlich auf zentrale Klassiker ihres ehrenwerten Repertoires. Erfreulicherweise hat die Band auch das zuletzt schmerzlich vermisste ›Low Life In High Places‹ vom 1992er Zweitwerk Laughing On Judgement Day reaktiviert.
Die Haare von Frontmann Danny Bowes mögen schon seit Langem weiß sein — seine Stimme ist in den drei Jahrzehnten seit Bandgründung verblüffend wenig gealtert. Bei seiner sympathischen Interaktion mit dem Publikum (»Can you sing?« — »Are you sure?«) schimmert immer wieder der Schalk in ihm durch, doch der 58-Jährige kann auch anders: Als einige ungeduldige Kiss-Anhänger lautstark nach Gene Simmons brüllen, verpasst er ihnen mit verärgertem Blick einen kurzen, aber wirkungsvollen verbalen Rüffel. »Kiss-Fans sind ja nicht unbedingt bekannt dafür, die größten Tänzer zu sein«, frotzelt Bowes später neckisch und entschuldigt sich flugs gewohnt charmant durch die Hintertür. »Aber wir wussten ja, worauf wir uns eingelassen haben und dass wir an diesem Abend womöglich etwas härter würden arbeiten müssen. Die Temperatur in der Halle hat uns ehrlich gesagt völlig fertiggemacht. Wir sind Briten. Bei uns gibt’s ab 15 Grad im Schatten Hitzefrei.«
Die übrigen Anwesenden bejubeln neben ›Low Life In High Places‹ besonders die Songs ihres bis heute phänomenalen Debüts Backstreet Symphony (1990). Mag man ›Higher Ground‹, das Emotionsfeuerwerk ›Love Walked In‹ oder den Gute-Laune-Groover ›Dirty Love‹ über die Jahre auch oft live erlebt haben — es ist immer wieder erstaunlich, mit wie viel Charisma, Leidenschaft und Energie Thunder diese und andere Lieder nach wie vor mit Leben füllen. Ein durchaus headlinerwürdiger Auftritt, der gern noch ein wenig länger hätte dauern dürfen.
Klassiker, Rifforkane, allerbeste Laune
Der eigentliche Headliner kommt während der ersten Songs der Thunder-Show vorgefahren und hat sich nach seiner Abfahrt im Hotel eine kleine Verfolgungsjagd mit stalkenden Fans geliefert. Gegen 23 Uhr betritt Kiss-Legende GENE SIMMONS schließlich ganz lässig in schwarzer Lederhose, schwarzem Hemd und der obligatorischen Sonnenbrille die Bühne, auf der zur Kühlung zwei riesige Klimaanlagen für ihn aufgebaut wurden. Im Schlepptau hat er seine drei Gitarristen Ryan Cook (Hair Of The Dog), Phil Shouse (John Corabi) und Jeremy Asbrock sowie Slash-Drummer Brent Fitz, die schon ihren Soundcheck am Nachmittag zu einem Erlebnis haben werden lassen.
Inzwischen ist es mit knapp 1.500 Besuchern richtig voll geworden in der Halle. Und noch viel heißer. Wie gut das erst seit 2017 existierende Quintett klingt (wozu der hervorragende Sound in der Turbinenhalle seinen Teil beiträgt), wird sofort beim Kiss-Evergreen ›Deuce‹ deutlich, den man selten in einer solch wuchtigen und gewaltig drückenden Version gehört hat. Danach begrüßt der 69-Jährige in beinahe akzentfreiem Deutsch das Auditorium, dessen euphorische Reaktionen ihn von Beginn an sichtlich rühren.
Deutet der Auftakt noch auf Kiss-Standardprogramm mit mächtiger Band hin, so macht Simmons gleich danach sein Versprechen wahr, auch seltene Schätze bei der Songauswahl zu berücksichtigen. In dem an eine geniale Mischung von Kiss und AC/DC erinnernden ›Are You Ready‹ kommt ein Song vom sündhaft teuren Raritäten-Boxset The Vault zur Aufführung, den noch kaum jemand kennt und doch schon nach wenigen Textzeilen mitsingen kann. Wieder überwältigen die Gitarrenbreitseiten, zum Solo hüpfen Asbrock und Shouse im Duckwalk über die Bretter.
Das nächste Highlight markiert wenig später der furiose Rifforkan ›Parasite‹. Wie locker und nahbar sich Simmons im Rahmen seiner Soloband gibt, wird auch bei ›Do You Love Me‹ deutlich: Für die im Kiss-Kontext von Paul Stanley gesungene Nummer, deren Strophen hier abwechselnd von Cook, Shouse und Asbrock intoniert werden, bittet er ein gutes Dutzend Mädels auf die Bühne, die links und rechts von ihm an Mikros postiert werden und beim Refrain mitsingen dürfen. Auch sonst ist entwaffnende Ungezwungenheit Trumpf: Eins der Mädels, geschminkt wie ihr Held bei Kiss, darf gleich auf der Bühne bleiben, um gemeinsam mit Simmons zu singen. Der Impuls zum passenden Lied kommt letztlich von der Band, die — ein Musiker nach dem anderen — zaghaft in ›I Was Made For Lovin’ You‹ einsteigt.
Gina lässt Gene grinsen
Sympathisch animiert Simmons, leitet an und überlässt seinem spontanen Gast das Scheinwerferlicht; er selbst spielt Bass und gesellt sich lediglich beim Refrain zum Duett hinzu. Hoch amüsiert genießt er sichtlich das Szenario — mit breitestem Grinsen, das nicht mehr aus seinem Gesicht entweicht, seit er während des anfänglichen Smalltalks den Namen der jungen Dame erfragt hat, die etwas verlegen und zum Johlen der Halle »Gina« ins Mikro kicherte. Der Name stimmt übrigens, wir haben das geprüft.
Auch für ›I Love It Loud‹ (bei dem nun die Herren der Schöpfung und zu Chorehren kommen) und ›Rock And Roll All Nite‹ holt Simmons Fans auf die Bühne. Musikalisch freilich sind nicht diese Kiss-Standards der eigentliche Clou der Show, sondern Raritäten wie ›Watchin’ You‹, ›I‹ (vom Konzept-Flop Music From The Elder), das Instrumental ›Love Theme From Kiss‹, die Dynasty-Kuriosität ›Charisma‹ oder ›Radioactive‹ von seinem unterschätzten 1978er Soloalbum.
Selbst nicht vollständig ausgespielte Stücke wie das brettharte ›Unholy‹ aus der schminkelosen Kiss-Phase oder die Unmasked-Perle ›She’s So European‹ stellen eine wertvolle Bereicherung dar. Spontan ändert die Band auch mal die Setliste und streicht kurzerhand das eigentlich geplante ›All The Way‹ von Hotter Than Hell. Stattdessen spielen die Musiker auf Zuruf aus dem Publikum einen anderen Song dieser Platte: Die balladeske Preziose ›Goin’ Blind‹ entwickelt sich auch aufgrund von Simmons’ immer noch tadelloser stimmlicher Verfassung zu einer Glanznummer.
Feuer, Kunstblut und Konfetti sind nicht nötig: Diese Musik funktioniert dank des glänzend aufgelegten Chefs und seiner perfekten Mitstreiter auch ohne das spektakuläre Kiss-Show-Brimborium bestens. Mit ›Calling Dr. Love‹ und — natürlich — ›Rock And Roll All Nite‹ geht der Rausch nach über neunzig heißen Minuten um halb eins in der Nacht zu Ende. Kein Zweifel: Was hier über die Bühne gegangen ist, war etwas ganz Besonderes. Und manch ein Nassgeschwitzter, der erst nach und nach auf dem Weg zum Ausgang die Sprache wiederfindet, ist sich sicher: Eine energetischere, gelöstere und intimere Show wird es von Kiss nicht mehr geben. Schminke und Pyros machen halt noch keinen Sommer.
Unser besonderer Dank geht an Michael Neumann und sein Team in der Turbinenhalle und Bernd Wilbert sowie an alle, die dieses Fest möglich gemacht haben! Nicht zuletzt auch an Gene Simmons, der sich auf und hinter der Bühne so humorvoll, freundlich und im positiven Sinne ganz anders präsentierte, als man es hatte unken hören.