Christian Mistress

Das Streben nach Natürlichkeit

Nach zehnjähriger Abwesenheit veröffentlichen Christian Mistress ein faszinierendes neues Album. Das Quartett aus dem Nordwesten der USA hat seinen eigenwilligen Hybrid-Sound aus Spätsiebziger-Hardrock und NWoBHM-Reminiszenzen auf Children Of The Earth geschickt verfeinert.

TEXT: PETER ENGELKING |FOTO: Johnny Delacy

Acht Uhr früh am Silvestertag. Christine Davis hat sich in ihrer Wahlheimat Kalifornien gerade aus dem Bett geschält und ist mit einer Tasse Kaffee in der Hand bereit, über Children Of The Earth zu sprechen — über das bärenstarke Comeback-Album also, auf dem ihre Band weiterspinnt, was sie zuletzt auf To Your Death (2015) so charmant wie überzeugend auf Platte brachte. 

Ihr bodenständiger und immer etwas verschroben wirkender Sound bringt Hardrock und Frühachtziger-Metal im vierten Anlauf mit einer noch viel größeren Überzeugungskraft zueinander und dürfte jeden Anhänger der Band spielend zurück ins Boot holen, dem mit der Zeit Zweifel am Fortbestand der illustren Christian Mistress gekommen war.

»Zehn Jahre zwischen zwei Platten verstreichen zu lassen ist nicht ohne, das ist uns sehr wohl bewusst«, sagt die Sängerin und reibt sich den Schlaf aus ihren müden Augen. »Es fühlt sich gerade an wie ein Neustart. Es ist einer dieser Momente, in denen man die Reaktionen der Leute kaum abwarten kann. Hoffentlich haben uns unsere Anhänger noch nicht komplett aus ihren Köpfen gestrichen. Heavy Metal hat in den letzten Jahren hier in den Staaten wieder ein höheres Ansehen erlangt. Ich hoffe, dass wir mit Children Of The Earth auch hier ein paar Leute für uns begeistern werden, die uns bislang gar nicht auf dem Schirm hatten. Ich starte ziemlich aufgeregt ins Jahr 2025.«



In der Zeit, die seit To Your Death ins Land gezogen ist, beschäftigten sich Davis und ihre Mitstreiter mit anderen musikalischen Projekten, lebten Präferenzen aus, die stilistisch nicht zu den 2008 gegründeten Christian Mistress passen wollten. Hinzu kam der temporäre Stillstand während der Corona-Pandemie und zu allem Überdruss ging vor einiger Zeit mit dem deutschstämmigen Oscar Sparbel auch noch einer der beiden Gitarristen von Bord. 

»Oscar ist zum ersten Mal Vater geworden«, erklärt Christine Davis. »Er ging zunächst davon aus, dass er Band und Familie unter einen Hut bekommt, musste sich letztlich aber eingestehen, dass dem nicht so ist. Nachwuchs und Gattin genießen seine ungeteilte Aufmerksamkeit, und dafür haben wir natürlich volles Verständnis.«

Spurlos ging Sparbels Ausscheiden an der Band nicht vorbei. Schließlich war es der Gitarrist, der in der Vergangenheit den Großteil der Christian Mistress-Stücke komponierte: Songs, die den Geist einer anderen Zeit aufleben lassen und auf vortreffliche Art Spätsiebziger-Hardrock und Einflüsse der New Wave of British Heavy Metal kombinieren, was die bisherigen Alben Agony & Opium (2010), Possession (2012) und To Your Death zu hörenswerten Exponaten machte.

»Oscar war bislang die Schlüsselfigur beim Songschreiben, das stimmt. Als wir vor zwei Jahren die ersten Ideen für eine weitere Christian Mistress-Scheibe austauschten, war aber schnell klar, dass wir das auch zu viert gewuppt bekommen würden«, erinnert sich Davis, die in der Vergangenheit zusammen mit drei Freundinnen die folkloristische Black Metal-Combo Vradiazei unterhielt, die komplett auf akustische Instrumente setzte.



»Das kompositorische Fundament unserer Band ist das Zusammenspiel von Bass und Schlagzeug; dieses markante Pulsieren gibt den Weg vor. Mein Gesang und die Gitarrenarbeit müssen sich nach deren Vorgaben richten und diesen von der Rhythmus-Abteilung erzeugten Druck für den Hörer zugänglich ummanteln.«

»Sowohl Tim Diedrich, unser zweiter Gitarrist, als auch unser Bassist Jonny Wulf kamen mit exzellenten Ansätzen daher, die zum einen Oscars kompositorische Linie fortsetzten und mir zum anderen den Einstieg in meine Texte vereinfachten. Die richtigen Textzeilen finden bei mir immer erst dann ihren Weg aufs Papier, wenn ich durch Riffs und Melodien inspiriert werde; wenn die Songschnipsel quasi anfangen mit mir zu sprechen. Und das passierte nach diesem Startschuss recht zügig.«

Dass sich durch die veränderte Saiten-Konstellation auch Raum für dezente Neuerungen im Christian Mistress-Sound auftaten, begrüßt die Frontfrau, wie sie sagt. »Wir haben auf Children Of The Earth wesentlich mehr Platz für Harmonien geschaffen, für mehr Wohlklang gesorgt, wenn man das so sagen kann. ›Shadow‹ ist für mich der Song, an dem sich diese Veränderung am deutlichsten erkennen lässt. Die Gitarren halten sich dezent im Hintergrund und geben meinem Gesang sehr viel Raum zur Entfaltung, das sind neue Akzente im Bandsound — bislang musste ich oftmals um jede Note kämpfen.«

»To Your Death war schon zugänglicher als unsere ersten beiden Alben, aber die aktuellen Stücke sind noch leichter zu erfassen. Momentan sehe ich das als größten Pluspunkt an. Als das positive Resultat der langen Wegstrecke, die wir seit der letzten Scheibe zurückgelegt haben.«



Nicht nur der musikalische Teil von Children Of The Earth erweist sich als luftiger und sonniger als die vorherigen Arbeiten der Band. Auch Davis’ Texte sind lebensbejahender, als es noch auf To Your Death der Fall war. »Vor zehn, elf Jahren gingen wir durch eine dunkle Zeit«, blickt die Chanteuse zurück. 

»Damals hatte einer unserer besten Freunde Selbstmord begangen und auch im familiären Umfeld hatten einige von uns Stress. In dieser Situation konnte To Your Death kein positives Album werden, dafür war unser aller Stimmung einfach zu düster. Children Of The Earth entstand hingegen in einer Phase, in der wir glücklich waren und dankbar auf unser Dasein blickten. Das ist tatsächlich eine neue Gefühlslage für die Band, mit der wir echt gut klarkommen!«

Konstant geblieben ist hingegen das so simple wie charmante Klangbild, durch das Christian Mistress-Stücke wie aus der Zeit gefallen anmuten. Das mit Thin Lizzy-Harmonien auftrumpfende ›Voiceless‹, das melodieselige ›Lake Of Memory‹ und der freche Rocker ›Mythmaker‹, in dem sich scheinbar Ronnie James Dio und Roky Erickson über den Weg laufen, sind nur einige Nummern, die ganz den Eindruck erwecken, Ende der siebziger Jahre akribisch erdacht und eingespielt worden zu sein. 

»Wir sind Menschen und wollen genau so klingen«, lacht Christine Davis, die in der Regel einmal im Monat von Kalifornien nach Olympia, Washington reist, wo die übrigen Bandmitglieder nach wie vor beheimatet sind und einen Proberaum unterhalten.



»Als ich meine ersten musikalischen Gehversuche unternahm, war in unserer Region Punk das große Ding. Das war Anfang der Zweitausender, damals lebte ich noch in Portland, Oregon. Niemand scherte sich um Metal-Combos, aber an gleich mehreren Tagen im Monat standen Punk-Bands auf der Bühne. Deren simpler Sound hat mich fasziniert, den wollte ich mit meiner damaligen Band in eigenen Stücken aufgreifen, obwohl wir uns grundsätzlich mehr an Judas Priest oder den frühen Iron Maiden orientiert haben.« 

»Seitdem ist dieses Streben nach Natürlichkeit fest in mir verankert, und auch die anderen bei Christian Mistress ticken so. Unser letztes Album To Your Death hatten wir in Kalifornien aufgenommen. Das war zwar eine tolle Erfahrung, logistisch aber ein tierischer Aufwand. Children Of The Earth entstand deshalb bei uns zu Hause in Olympia. Alles viel entspannter so.«

Das High Command Studio  ist ein vertrauter Ort für die Band, immerhin entstanden in diesen Räumlichkeiten bereits ihre ersten Demos und auch die Alben Agony & Opium und Possession. »Wir wussten, dass uns dort kein High-Tech-Hokuspokus erwartet, sondern analoges Equipment, das unsere Vorstellungen von einem schlichten und dennoch drückenden Sound gut einfangen kann. Es ist nicht so, dass wir uns kategorisch technischen Neuerungen verweigern würden. Aber Christian Mistress brauchen kein dolles Brimborium.«

Christine Davis musste bei den Aufnahmen allerdings feststellen, dass die lange Studio-Abstinenz ihrer Stimme ganz und gar nicht gutgetan hatte. Während die Musik recht schnell im Kasten war, musste die Sängerin ihren Beitrag in zwei Schritten aufs Band bringen. »Stimmbänder sind im weitesten Sinne Muskeln. Sie verkümmern, wenn man sie zu lange nicht intensiv benutzt«, weiß die Sängerin. 

»Die vereinzelten Sachen, die ich seit To Your Death gemacht hatte, waren einfach nicht ausreichend, um in Form zu bleiben. Also habe ich in zwei zeitlich getrennten Sessions jeweils vier Stücke für das Album eingesungen. Das hat etwas Geduld erfordert, führte aber zum gewünschten Ergebnis. Jetzt können wir uns der Planung von längst überfälligen Konzerten widmen.«


Dieser Text stammt aus ► ROCKS Nr. 105 (02/2025).

ROCKS PRÄSENTIERT

DAS AKTUELLE HEFT

Cover von ROCKS Nr. 106 (03/2025).