Small Faces

Die runde Sache mit halbem Mond

Sie hatten genug davon, als Popsternchen und nicht als Rock-Musiker wahrgenommen zu werden: Ogdens’ Nut Gone Flake ist ein verrücktes Meisterstück der Psychedelic-Ära, das durch den Geschichtsstrang der zweiten Plattenseite zum halben Konzept-Opus wird.

TEXT: DANIEL BÖHM |FOTO: Album

Mit ihren modischen Klamotten, den adretten Frisuren und ihrer Vorliebe für Rhythm’n’Blues und Soul verkörperten die Small Faces das großstädtische Mod-Ideal wie viele andere britische Bands der mittleren Sechziger. Musikalisch hingegen war die 1965 in London gestartete Gruppe immer schon ein bisschen anders unterwegs als ihre Zeitgenossen der Post-Beatles-Beat-Ära — und das vor allem wegen der immensen Power-Soul-Stimme von Steve Marriott, auf die so ziemlich gar nichts seines zierlichen Äußeren hindeutete. Noch heute fasziniert der Orgel-Rock ihres 1966 über Decca erschienenen LP-Erstlings Small Faces gerade wegen des eruptiven Gesangsvortrags, der die Band von Mod-Zeitgenossen wie The Who abhob und seinerzeit auch Robert Plant genau zuhören ließ: Marriotts markerschütternde Darbietung von ›You Need Loving‹ war in vielerlei Hinsicht der Wegbereiter für ›Whole Lotta Love‹.



Die frühen Tage der Small Faces bei Decca sind auch die ihres Managers Don Arden. Der Vater einer gewissen Sharon Osbourne gilt als unbarmherziger und manipulativer Impressario, der mit der Gruppe andere Ziele verfolgt als sie selbst es tut. Nachdem ihre zweite Single ›I’ve Got Mine‹ gefloppt war, lässt er die nächste von den Songwritern Kenny Lynch und Mort Shuman verfassen, die der Band die betont freundliche Sixties-Pop-Nummer ›Sha-La-La-La-Lee‹ vorsetzen, die damit prompt den dritten Platz der britischen Hitparade in Beschlag nimmt. »Für Don Arden sollte es genau so weitergehen«, erinnert sich Schlagzeuger Kenney Jones. »Der wollte einen Hit nach dem nächsten und es war ihm völlig egal, woher und von wem sie stammten. Ausgerechnet ›Sha-La-La-La-Lee‹ ist durch die Decke gegangen. Dabei ist das ein Song, der uns so gar nicht entsprochen hat. Das hat uns ziemlich beschäftigt, um es mal vorsichtig auszudrücken.«

Da Arden auch Zahlungen an die Band zurückhält, trennen sich die Small Faces zum Jahresende von dem Manager und ihrer Plattenfirma Decca. Anfang 1967 unterschreiben sie einen neuen Vertrag mit Immediate Records. Deren Inhaber ist Andrew Loog Oldham: Der seinerzeitige Manager der Rolling Stones wird in dieser Funktion auch seine neue Band-Errungenschaft begleiten, in deren Handwerk er sich nicht einzumischen verspricht. Während die Small Faces ihre neue Freiheit im Aufnahmestudio zu erforschen und auszukosten beginnen, macht der verärgerte Don Arden seinem Ruf alle Ehre, abtrünnige Musiker niemals ungeschoren davonkommen zu lassen. Noch bevor ihr zweites reguläres Album im Juni 1967 erscheint, wirft der gefürchtete Geschäftsmann eine schnell zusammengestellte LP mit Einspielungen der beiden zurückliegenden Jahre, die von den Small Faces bei Decca zurückgelassen wurden, auf den Markt.




Dass From The Beginning wie auch die daraus ausgekoppelten Singles ›All Or Nothing‹ oder ›My Mind’s Eye‹ — im Marvin Gaye-Cover ›Baby Don’t You Know‹ ist Jimmy Winston als Sänger und an der Orgel zu hören, den Ian McLagan 1965 ersetzte — mit beachtlichen Charts-Einschlägen das öffentliche Bild der Band weiter formt, passt so gar nicht zu den Ambitionen der Musiker, die sie auf dem verwirrend abermals Small Faces getauften Debüt für Immediate in Musik gießen. Es ist kein schlechtes Album, aber auch kein stringent gutes, dem man deutlich anhört, wie sehr der singende Gitarrist Marriott, Bassist Ronnie Lane, Orgelspieler Ian McLagan und Jones am Schlagzeug sich noch mit großzügig gewährter Studiozeit zu arrangieren lernen müssen. Lane singt eher unbeholfen ›Something I Want To Tell You‹, das die Schlagkraft ihrer Platte torpediert, die in ›(Tell Me) Have You Ever Seen Me‹ (ein wunderbarer Rocker mit Orgel, Keith Moon-Schlagzeugekstase und psychedelisch verwobenen Mellotron-Streichern) oder der Cembalo-Nummer ›Feeling Lonely‹ durchaus Glorioses aufbietet, mit dem die Small Faces in der Musik-Ära nach Revolver und Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band Fuß fassen.

Dass die LP in der heute bekannten Fassung überhastet an die Plattenläden ausgeliefert wurde, mag nicht zuletzt an dem durch From The Beginning aufgebauten Zugzwang gelegen haben. Fertig mit ihren Einspielungen waren die vier noch längst nicht — wovon die ein gutes halbes Jahr später in den USA erschienene Bearbeitung unter dem Titel There Are But Four Small Faces mächtig profitierte, da für deren Zusammenstellung weitere Lieder zur Verfügung standen. ›Itchycoo Park‹ etwa, das als erste Aufnahme mit Flanger-Effekt gilt, oder ›Tin Soldier‹: Beide Preziosen werden bis zum Ende des Jahres 1967 als separate Singles Hits, nicht nur zu Hause in England. ›Here Come The Nice‹ hingegen war bereits bekannt und die Premiere der Band auf Immediate — ein Song, in dem Marriott ganz unverhohlen über einen Drogen- und Speed-Dealer singt.



»Wir haben damals schon eine Weile alle möglichen Substanzen ausprobiert, Speed war eine davon. Wir hätten nicht gedacht, dass sie ›Here Comes The Nice‹ überhaupt rausbringen würden«, amüsierte sich der 2014 verstorbene McLagan. »Irgendwie hat es die Nummer sogar ins Programm der BBC geschafft. Der Text war ein Versuch, unsere Pop-Vergangenheit abzustreifen. Funktioniert hat es aber nicht wirklich.«
Mehr Erfolg hat diesbezüglich ihr nächstes Album-Abenteuer, das sie direkt im Anschluss an eine kurze Australien-Tournee mit The Who und weiteren Konzerten und TV-Auftritten in Europa voranbringen. Ein Teil der Stücke, die auf Ogdens’ Nut Gone Flake zu hören sein werden, existieren zu diesem Zeitpunkt bereits. Für eine LP reicht es allerdings noch nicht. »Damit es zügig vorangeht, hatte uns Andrew Oldham Kabinen-Cruiser gemietet«, erinnert sich Kenney Jones. Wir sollten von keinem gestört werden und uns ganz aufs Komponieren konzentrieren. So zumindest der Plan. Tatsächlich sind wir mit unseren Booten wie geistesgestört über die Themse geheizt. Als das Wochenende rum war, hatten wir rein gar nichts geschrieben — dafür aber die Boote geschrottet. Schließlich haben wir uns um ein Lagerfeuer versammelt und Einfälle hin- und hergeworfen. Irgendwer bemerkte dann, dass wir Halbmond hatten. Und damit kamen die Ideen.«

Der Halbmond wird zur Grundlage einer Geschichte, die aus der sechs Stücke umfassenden Song-Suite der zweiten Plattenseite von Ogdens’ Nut Gone Flake ein Konzept-Werk machen wird: die psychedelisch gefärbte Erzählung von einem Typen namens Happiness Stan, der sich besorgt auf die Suche nach der fehlenden zweiten Mondhälfte begibt. Unterwegs begegnet er einer Fliege, die er vorm Verhungern rettet und die sich daraufhin in ein Rieseninsekt verwandelt, das ihn zur Höhle des Einsiedlers Mad John bringt, wo Stan erfährt, dass der Mond bald wiederhergestellt ist. Das Märchen endet mit einem von Mad John vorgetragenen Exkurs über den Sinn des Lebens und der großen philosophischen Belehrung, dass das Leben ohnehin nur eine Schüssel Müsli sei: Man wacht jeden Morgen auf — und es ist da.



»A Quick One von The Who hat uns angeregt, unsere eigene kleine Rockoper zu versuchen«, schmunzelte McLagan. »Pete Townshend hat sich gekringelt vor Lachen, ihm hat die Story gefallen. Ich gebe zu, dass sie etwas dünn ist. Aber durch die Musik hat sie was.«
Vorgetragen wird die Geschichte von Erzähler Stanley Unwin, der das Album, das zwischen psychedelischem Rock, Pop-Art-Elementen, skurrilen Folk-Splittern und Music-Hall-Gaudi pendelt und nach vorzüglichen Brit-Psych-Nummern wie ›Lazy Sunday‹ auf der A-Seite noch viel englischer wirken lässt. Unwin erfreute sich seinerzeit großer Beliebtheit in Film und Fernsehen — nicht zuletzt wegen der von ihm erfundenen Kunstsprache „Unwinesisch“, einem auf dem Englischen basierenden Kauderwelsch.
Und wie passt das Artwork zu der LP, die am 24. Mai 1968 erscheint? Gar nicht, lacht Jones. »Man könnte meinen, dass wir für unsere Geschichte auch einen Titel gehabt hätten. Bis zur allerletzten Minute hatten wir allerdings überhaupt keine Idee. Irgendwann fiel unser Blick auf das Kaffeetischchen, auf dem wir immer unsere Tüten gedreht haben. Der Tabak unserer Wahl dazu war „Ogden’s Nut-Brown Flake“, der in einer hübschen Tabakdose verkauft wurde. Wir haben dann einfach den Namen leicht abgeändert, weil das zur Stärke unserer Joints gepasst hat. Die Plattenhülle parodiert das Design der Tabakdose. Sie war kreisrund — sowas gab es damals noch nicht. Das war genauso durchgeknallt wie Happiness Stans verrückte Suche nach dem Halbmond.«

ROCKS PRÄSENTIERT

DAS AKTUELLE HEFT

Cover von ROCKS Nr. 107 (04/2025)