Iron Maiden

Senjutsu

Parlophone
VÖ: 2021

Nach eigenen Regeln

Schön, dass sich manche Dinge nie ändern: Eine neue Platte von Iron Maiden wird angekündigt, und die Szene ist elektrisiert! Nicht nur, weil die Mannen um Steve Harris nach wie vor die unbestritten größte Metalband des Planeten sind (die längst im breiten Mainstream angekommenen Metallica fahren außer Konkurrenz), sondern auch, weil sie mehr als vierzig Jahre nach Erscheinen ihres Debüts als einer der wenigen Acts ihrer Generation noch wichtige Alben veröffentlichen, die nicht nur als Aufhänger für eine weitere Greatest-Hits-Tour dienen.

Auch auf Senjutsu fühlen sich Maiden nur ihren eigenen Ansprüchen verpflichtet und liefern zehn neue Stücke mit einer Gesamtspielzeit von 82 Minuten. Was auf dem Papier schon sperrig aussieht, entpuppt sich auch bei ersten Durchläufen als intensiv. Der Zugang zum 17. Studio-Werk der Briten will erarbeitet werden, nur wenige Stücke gehen sofort ins Ohr. Zu diesen kompakteren Nummern zählt etwa das von Janick Gers im Verbund mit Harris geschriebene ›Stratego‹, das etliche Markenzeichen der Band in knapp fünf Minuten unterbringt: Nicko McBrains charakteristisches Schlagzeugspiel, Harris' galoppierender Bass und ein Refrain, bei dem die Leadgitarren und Bruce Dickinson eine majestätische Einheit bilden. Das noch kürzere ›Days Of Future Past‹ trägt mit seiner rockig-straighten Ausrichtung deutlich die Handschrift von Gitarrist Adrian Smith und wurde von Dickinson mit einer mitreißenden Gesangslinie veredelt, die sich schon beim ersten Hören festsetzt.

Deutlich ungewöhnlicher ist der Einstieg: Bei ›Senjutsu‹ trägt der inzwischen 69-jährige McBrain mit einem an japanische Taiko-Trommeln angelehnten, hypnotischen Rhythmus durch den acht Minuten langen Song, der die perfekte Mischung aus Smiths melodienstarker Zugänglichkeit und Harris' Streben nach aufbauender Atmosphäre darstellt. Diese treibt der Bassist bei vier komplett alleine verfassten Nummern auf die Spitze: Während ›Lost In A Lost World‹ knapp unter zehn Minuten bleibt, reißen die letzten drei Stücke des Albums diese Marke locker: ›Death Of The Celts‹, ›The Parchment‹ und ›Hell On Earth‹ wären für sich alleine auf früheren Maiden-Scheiben krönende Abschluss-Tracks gewesen, in einer Reihe stehend verlangen sie dem Hörer viel Aufmerksamkeit ab.

Nicht jedem mag gefallen, dass Harris seit vielen Jahren verstärkt auf überlange Nummern setzt, die mehr von langsam aufbauender Stimmung als komplexem Songwriting leben. Als meinungsstarker Steuermann hat er sich aber noch nie um Kommentare Außenstehender geschert. Nur deshalb konnten sich Iron Maiden in ihren Anfangsjahren gegen die in England übermächtige Punkwelle behaupten und aus den Londoner Pubs zu weltweiten Erfolgen segeln. Auch heute fühlt sich der Künstler nur seiner eigenen Vision verpflichtet, und wer sich auf seine Kompositionen einlässt, wird viel vom klassischen Maiden-Spirit in ihnen erkennen. ›Lost In A Lost World‹ erinnert stellenweise ebenso an den ›Ancient Mariner‹ wie an ›Fear Of The Dark‹, ›The Parchment‹ besitzt jene komplex-progressiven Instrumentalpassagen, für die Harris schon seit den Debüt-Tagen berüchtigt ist, und wenn ›Hell On Earth‹ nach über zwei Minuten Geplänkel in Fahrt kommt, entpuppt sich der Rausschmeißer mit seiner einprägsamen Melodie als einer der unbestrittenen Höhepunkte von Senjutsu.

Auf dem ersten Studio-Album nach seinem erfolgreichen Kampf gegen den Zungenkrebs begeistert Bruce Dickinson mit einer kraftvollen Performance, die von authentischer Emotionalität lebt. Wenn der 62-Jährige bei ›Hell On Earth‹ mit bebender Stimme von wütenden Gefühlen singt oder Verzweiflung und Hoffnung bei ›The Darkest Hour‹ kanalisiert, taucht er ganz tief in diese Stücke ein. Dieses Herzblut, diese Leidenschaft ist es, die Iron Maiden auch heute noch antreibt und auszeichnet. Dass Produzent Kevin Shirley, der seit der Rückkehr von Dickinson und Smith mit Brave New World (2000) ununterbrochen an den Reglern sitzt, diese spontane Kraft einfangen soll, ist bekanntermaßen der Wunsch der Band — auch wenn dadurch die Perfektion alter Meisterwerke unter Martin Birch unerreicht bleibt.

Aber auch hier gilt: Iron Maiden machen ihre Regeln selbst, folgen nur den eigenen Bedürfnissen und sind deshalb heute noch genauso authentisch und wichtig wie eh und je. Wer lieber der Nostalgie frönt, mag weiterhin die ersten sieben Alben der Band in Endlosschleife hören. Wen aber interessiert, was Harris, Dickinson & Co. heute noch zu sagen haben (und das ist eine Menge!), der wird mit Senjutsu viele spannende Stunden erleben.

 

(8.5/10)

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