Steven Wilson

The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)

Kscope
VÖ: 2013

An den Rändern ausgefranst

Ein wild strudelnder Bass fängt nach und nach alle ein; der akkurate und dennoch genialischen Eingebungen nicht abgeneigte Drummer verbindet aus dem Hintergrund das Brachialgebolze des Rockers mit der Akribie des Jazzers. Flötentöne brechen sich Bahn, bis unvermittelt ein an Gentle Giant erinnernder Chorus eine Kehrtwende einläutet. Dann jagen sich die Leadinstrumente gegenseitig durch einen Parforce-Ritt. Ist das nun Jazzrock? Kaum meint man, es begriffen zu haben, schält sich eine eher kühle Melodie aus dem Keyboard. Dann ein abrupter Bruch, King Crimson lässt grüßen…

Und das, verehrtes Publikum war erst der zwölfminütige Auftakt ›Luminol‹. Wer allen Facetten, die Multitalent Steve Wilson bedient, etwas abgewinnen kann, und wer die Anstrengung des bewussten Zuhörens nicht scheut, der wird mit diesem Album bestens bedient: Kein Stück gleicht dem anderen, und die Musik darf noch öfter mitten im Song die Richtung wechseln. ›The Holy Drinker‹ ist das Stück des Albums, das Wilsons Vorliebe für die Experimentierfreude im Gepräge des Siebziger-Jahre-Rocks am eindrücklichsten illustriert: Stilistische Offenheit und dennoch Härte — die jedoch nichts mit Heaviness zu tun hat. Und auch der Liebhaber von Wilsons stillgelegter Proggruppe findet mit etwas Mühe ein Leckerli: ›Drive Home‹ wirkt wie  eine typische Ballade Porcupine Trees, allerdings in ein anderes Licht getaucht: der Sound ist viel intimer, viel direkter produziert und in einen Schleier Melancholie eingewickelt.

(9/10)

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