Jethro Tull

Minnegesang im Klampfenhain (Sammlerguide)

Ohne die genialen Visionen des schrulligen Querflötisten Ian Anderson, der auf der Bühne stets auf einem Bein balancierend sein Instrument blies, wäre die britische Rockszene der siebziger Jahre sehr viel ärmer gewesen.

TEXT: MARKUS BARO

In deren kreativster Zeit mischt der Londoner virtuos Elemente aus Rock, Blues, Jazz, Folk und Klassik zu einem nie zuvor gehörten Sound. Als einzige Konstante in der Besetzung ist Gitarrist Martin Lancelot Barre geduldet.1967 spielt aber noch Mick Abrahams neben Bassist Glenn Cornick und Trommler Clive Bunker das experimentelle Debüt This Was ein. Zwischen Abrahams und Anderson entbrennt früh ein Machtkampf, den der spätere Gründer von Bloodwyn Pig schließlich verliert.

Martin Barre erscheint auf der Bildfläche. Mit ihm setzt Anderson die skurrilen, stilübergreifenden, oft genial konzipierten Lieder in die Tat um. Und so ganz nebenbei entwickelt sich der stille „Sir Lancelot“ zu einem wahren Zauberer auf seinem Instrument. Das Quartett legt ein rasantes Tempo vor. Bereits der zweite Streich Stand Up erklimmt die Spitze der britischen Charts, der fröhliche Hit ›Locomotive Breath‹ lässt auf dem strengen Aqualung die Sonne strahlen, und das in eine fiktive Tageszeitung eingewickelte Konzeptwerk Thick As A Brick schafft den Durchbruch in den USA. Dort hält sich sogar das sperrige A Passion Play eine Weile auf Platz eins, während Kritiker in der Heimat Hohn und Spott über die verqueren Epen auskippen.

Mit dem spröden Too Old To Rock’n’Roll: Too Young To Die!, dem einzigen Beweis, dass sie in den Siebzigern zu Durchschnitt fähig waren, hauen Jethro Tull den Dauernörglern trotzig eine wirklich schwer zugängliche Liedersammlung um die Ohren. Songs From The Wood leitet 1977 die erfolgreiche Folk-Rock-Phase ein, die der hervorragende Live-Mitschnitt Bursting Out dokumentiert. Dem ambitionierten Stormwatch, das sich etwa mit der Verschmutzung der Weltmeere befasst, geht das ursprünglich als Alleingang von Ian Anderson vorgesehene A voraus, an dessen elektronischer Ausrichtung der ehemalige Roxy-Music-Keyboarder Eddie Jobson großen Anteil hat.

Das mit Synthie-Klängen überproduzierte Under Wraps bleibt das umstrittenste Opus im Tull-Katalog und führt zu einer dreijährigen Schaffenspause, die das gitarrenorientierte Crest Of A Knave beendet. Es kassiert den erstmals für das beste Hardrock/Metal-Album vergebenen Grammy: eine grobe Fehleinschätzung der Juroren, deretwegen die als sichere Sieger gehandelten Metallica mit ihrem selbstbetitelten („schwarzen“) Album leer ausgehen. Tulls Label Chrysalis quittiert die Entrüstung mit einer ganzseitigen Anzeige in der englischen Musikpresse. Sie zeigt eine Querflöte mit den lakonischen Worten: »The flute is a heavy metal instrument.«

Von nun an erscheinen Studioscheiben nur noch sporadisch. In den Neunzigern herrschen Resteverwertung, Solostoff und jede Menge Konzertauftritte vor. Auf der Bühne bleiben Jethro Tull auch im fünften Jahrzehnt ihres Bestehens ein Erlebnis.

 

UNVERZICHTBAR:


Minstrel In The Gallery (1975)

In Monacos mobilem Studio entsteht luxuriös ihre wohl wichtigste Platte, die harten britischen Rock, klassische Elemente, Folk-Einflüsse und viele Akustik-Parts enthält und bodenerschütternde E-Gitarren neben lyrische Flöten-Passagen stellt. Das hochgradig komplex wie nachvollziehbar geratene Album im schönen Mittelalter-Cover überzeugt mit dem ohrenschmeichelnden Titelsong und dem siebzehnzehnminütigen Epos ›Baker St. Muse‹ über die berühmte Londoner Straße, wo der Minnesänger Ian Anderson sein Domizil hat. Dort ersinnt er Texte über Shakespeare und die Nibelungen.



Heavy Horses (1978)

Der beste Teil der vom Landleben inspirierten Trilogie, die von den ebenfalls ordentlichen Scheiben Songs From The Wood und Stormwatch flankiert wird, trotzt mutig der Punk-Bewegung. Unverzichtbar: die vollblütige Titelnummer. Ansonsten rockt das buntgemischte Material entspannt (›Journeyman‹), pur folkloristisch (›Moths‹) oder auf schottischen Traditionals basierend (›No Lullaby‹). Statt von alternden Rockstars oder mittelalterlichen Barden singt Anderson von seinen neuen, unangenehmen Mitbewohnern (›…And The Mouse Police Never Sleeps‹). Skurril und liebenswert.



SECHS EMPFEHLUNGEN

Stand Up (1969)

Mit Ur-Gitarrist Mick Abrahams, dessen Stil fest im Blues verwurzelt war, konnte Anderson seine anspruchsvollen Kompositionen nicht verwirklichen. In Martin Barre findet sich exzellenter Ersatz, ohne dessen eigenwilligen Stil der Sound von Jethro Tull bald nicht mehr vorstellbar ist. Ihr erstes Nummer-eins-Album im Vereinigten Königreich glänzt mit ausgefallenen Rhythmus- und Tempowechseln (›For A Thousand Mothers‹), einer Bach-Adaption (›Bourée‹), rudimentären Folk-Einsprengseln (›Look Into The Sun‹), Mittelalter-Rock (›Fat Man‹) und Psychedelic-Blues (›A New Day Yesterday‹).



Aqualung (1971)

Eine komplette Abkehr vom Sound des Vorgängers Benefit und aufgrund der unsterblichen Hits ›Locomotive Breath‹ und ›Aqualung‹ ihre meistverkaufte LP. Das Debüt von Bassist Jeffrey Hammond und das letzte Album mit Drummer Clive Bunker ist jazzig-progressiv ausgefallen, sein intellektuelles, nicht leicht zugängliches Textkonzept handelt von Religion im Allgemeinen und dem Christentum im Besonderen. ›Cross-Eyed Mary‹ kombiniert Andersons Flöte mit Mellotron-Klängen, ansonsten sind die oft schroffen Wechsel von Akustikklampfen und E-Gitarren ein beliebtes Stilmittel.



 

Thick As A Brick (1972)

Ihre Antwort auf den Kunst-Rock der siebziger Jahre. Anderson ersinnt eine Geschichte über das Heranwachsen und komponiert ein Mammut-Werk, das der Konkurrenz zeigt, was fünf englische Waldschrate unter diesem windigen Begriff verstehen. Harten Rock, Keyboard-Pomp, eine Prise Krautrock, Jazz-Fusion-Elemente und ein kurzes Drum-Solo vom technisch versierten Barriemore Barlow kombinieren Tull mit halsbrecherischen, unorthodoxen Rhythmen und Tempi. Zur Abrundung wirft Anderson noch artfremde Instrumente wie Lauten, Xylophon, Violinen und Trompeten ins Getümmel. Das proggt!



 

War Child (1974)

Leichter verdaulich als der düster-grüblerische Vorgänger A Passion Play und auf kuriose Weise mit demselben verknüpft. Simpel rockenden Gassenhauern wie ›Bungle In The Jungle‹ und ›Skating Away On The Thin Ice Of The New Day‹ war großer Erfolg in den Hitparaden vergönnt. Der Klangkosmos wird durch Walzer und Shantys erweitert, die Performance besonders von Schlagzeuger Barriemore Barlow und Gitarrist Martin Barre klingt herrlich inspiriert. Kleiner Gag: Auf der LP-Rückseite illustrieren diverse Freundinnen, Plattenfirmenmitarbeiter und Bandmitglieder die einzelnen Songtitel.



 

The Broadsword And The Beast (1982)

Ein etwas ungelenker Versuch, nach dem schweren Imageverlust durch das Album A die Folk-Rock-Reputation zu retten. Trotz der Grabenkämpfe zwischen Barres schweren Riffs und den Synthie-Klängen von Neuzugang Peter-John Vettese sind die eingängigen und charmanten Stücke von gemütlicher Mittelalter-Atmosphäre geprägt. Gegen das melancholische ›Slow Marching Band‹, das überragende, keltisch anmutende ›Broadsword‹, das fröhliche ›Clasp‹ oder das fast metallisch stampfende ›Beastie‹ wirkt das auf modern getrimmte ›Watching Me Watching You‹ wie ein Rückfall in die ungeliebte Elektronik-Periode.



Roots To Branches (1995)

Selbstironisch bezeichnet sich Anderson als ›Wounded, Old And Treacherous‹, doch ist der kräftige Folk-Rock mit seinen gelegentlichen Fernost-Einflüssen allemal der lahmen Radiomucke des Vorgängers Catfish Rising vorzuziehen. Lieder wie ›At Last, Forever‹, ›Rare And Precious Chain‹ oder das Titelstück haben Biss und Spielfreude, der geschmeidige Wandel von Takt und Tempo in ›This Free Will‹ erinnern an die alten Progressiv-Zeiten, und in ›Valley‹ darf man sogar einen eleganten Blues bewundern. Obwohl eindeutig bemüht, schafft die Gruppe es doch, an alte Glanzzeiten anzuknüpfen.



VORSICHT!

Too Old To Rock’n’Roll: Too Young To Die! (1976)

Die Rache für die Verrisse von War Child kostet eine Menge Kredit. Ob der Titelsong autobiographisch gemeint war, wird Anderson fortan gefragt. Selbst schuld: Die unmelodisch und holprig arrangierten, zudem teils mit verzerrtem Gesang verhunzten Lieder bieten wie die mäßig originelle grafische Umsetzung der einfältigen Comic-Story kaum Anlass zur Freude. Das gerade rockende ›Quizz Kid‹ und das griffige Titelstück retten vor der totalen Bauchlandung, denn ›Salamander‹ oder ›Crazed Institution‹ sind des guten Namens schlicht unwürdig. Bassist John Glascock stirbt kurz nach den Aufnahmen.



 

Under Wraps (1984)

Schwache Verkäufe in den USA; britische Anhänger, die sich fragen, warum ihre Helden plötzlich wie The Police mit wirren Wave-Synthesizern klingen; Liedgut, das dem Frontmann eine ausgewachsene Stimmband-Entzündung beschert: Under Wraps bringt nichts als Ärger. Ein Trommler aus Fleisch und Blut hätte gar nicht üblen Songs wie ›Lap Of Luxury‹ oder ›Astronomy‹ besser getan als die wildgeworden programmierte Rhythmusmaschine. Den Mut zur Veränderung in allen Ehren, aber die anschließende demütige Rückbesinnung auf gewohntes Terrain mit Crest Of A Knave geriet ebenso halbherzig.



Diskografie Jethro Tull:

This Was (1967)
Stand Up (1969)
Benefit (1970)
Aqualung (1971)
Thick as a Brick (1972)
A Passion Play (1973)
War Child (1974)
Minstrel in the Gallery (1975)
Too Old to Rock 'n' Roll, Too Young to Die (1976)
Songs From the Wood (1977)
Heavy Horses (1978)
Stormwatch (1979)
A (1980)
The Broadsword and the Beast (1982)
Under Wraps (1984)
A Classic Case (1985, mit London Symphony Orchestra)
Crest of a Knave (1987)
Rock Island (1989)
Catfish Rising (1991)
Roots To Branches(1995)
J-Tull Dot Com (1999)
The Jethro Tull Christmas Album (2003)

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