Es kommt sehr selten vor, dass zwei Versionen der gleichen Band innerhalb weniger Monate ein neues Album vorlegen. Im Falle von Great White ist genau das eingetreten: Im Januar brachte ihr ehemaliger Frontmann Jack Russell mit seiner 2011 zusammengestellten Inkarnation der Gruppe He Saw It Comin’ heraus. Knapp fünf Monate später ziehen seine früheren Kollegen mit Full Circle nach.
Auf die Frage, ob er Russells Platte gehört habe, antwortet Gitarrist und Keyboarder Michael Lardie zögerlich. Man spürt: Das Zerwürfnis mit ihrem langjährigen Sänger, das juristische Streitigkeiten um die Namensrechte nach sich zog, die 2013 damit endeten, dass dieser seine Formation Jack Russell’s Great White nennen muss, wirkt bei ihm bis heute nach.
»Um ehrlich zu sein, kenne ich nur einen Song seiner Scheibe, dessen Titel mir nicht mehr einfällt. Ich weiß aber noch, dass ich erstaunt war, wie viel Auto-Tuning bei seinem Gesang zum Einsatz kam«, kann sich Lardie einen Seitenhieb nicht verkneifen. »Die Nummer hatte in meinen Ohren nicht sonderlich viel mit Great White zu tun. Ich denke, wenn noch etwas Zeit verstreicht, werden die Unterschiede zwischen seiner Band und uns noch deutlicher zutage treten. Unser Sound ist nach wie vor unversehrt.«
Tatsächlich klingen die Amerikaner mittlerweile wieder unverkennbar nach sich selbst — und damit nach vollreifem Hardrock, der von Blues und noch mehr kalifornischer Gelassenheit durchflossen ist. Auf Elation (2012), dem ersten Album mit Russells Nachfolger Terry Ilous (früher bei XYZ), gelang ihnen der Spagat, ihrem neuen Sänger eine passende Plattform für seine kraftvolle, angeraute Stimme zur Verfügung zu stellen und dabei gleichzeitig ihre ureigene Identität zu wahren, nicht immer überzeugend. Full Circle hingegen ist das Werk einer Band, die sich musikalisch gefunden hat.
»Ich denke, Elation war ein guter Start in unsere Zusammenarbeit mit Terry. Nach der Trennung von Jack wollten wir ein Zeichen aussenden, dass wir weiter die Art von Musik machen, für die wir stehen. Einen Sänger zu wechseln, ist nie einfach, es verändert zwangsläufig den Sound einer Gruppe. Zumal wir es eben bewusst nicht so wie Journey oder Foreigner gemacht haben, die sich einen Sänger geholt haben, der dem Original zum Verwechseln ähnelt«, betont Lardie. »Terry hat viel Blues in der Stimme, er steht auf britische Sänger wie Paul Rodgers und Steve Marriott. Aber er hat in den letzten Jahren auch ein viel besseres Gefühl dafür entwickelt, was Great White ausmacht. Davon profitiert die ganze Band.«
Im Unterschied zu Elation, dessen Songs in nur 33 Tagen geschrieben, aufgenommen und abgemischt wurden (eine »ziemlich verrückte Aktion«, wie Lardie meint), entstanden die Lieder von Full Circle im vergangenen Jahr über einen Zeitraum von mehreren Monaten. Die Studioaufnahmen brachten die Formation nach über drei Jahrzehnten wieder mit Produzent Michael Wagener zusammen, der einst ihre erste EP Out Of The Night (1983) und ihre Debüt-LP Great White (1984) betreut hatte.
»Wir haben uns im Oktober auf der Monsters of Rock Cruise wiedergetroffen, wo Great White zum Billing gehörten. Ich fand ihren Auftritt wirklich gut«, erzählt Michael Wagener. »Also bin ich zu ihrem Gitarristen Mark Kendall gegangen, habe Hallo gesagt und ihn gefragt: Hey, warum machen wir nicht mal wieder was zusammen?«
Ein Angebot, bei dem das Quintett nicht lange überlegen muss. »Michael ist ein legendärer Produzent, der über die Jahre mit Dokken, Skid Row oder Extreme große Erfolge gefeiert hat. Als Great White damals in den Achtzigern mit ihm ihre erste Scheibe einspielten, habe ich unter ihm in einem Studio namens Total Access als Toningenieur-Assistent gearbeitet. Dabei habe ich mit Mark Kendall Freundschaft geschlossen, und zwei Jahre später war ich Mitglied der Band«, erinnert sich Lardie.
Ursprünglich wollen Great White schon im Herbst 2016 ins Studio gehen, aber da Wagener erst später verfügbar ist, verschieben sie die Aufnahmen auf Februar 2017. Die Musiker nutzen die zusätzliche Zeit, um ihre vorhandenen Kompositionen sorgfältig auf Herz und Nieren zu prüfen und parallel weitere Songs zu verfassen.
»Auf den letzten Metern sind uns noch ein paar richtig coole Ideen gekommen. Das war früher schon oft so. Stücke wie ›All Over Now‹ von Once Bitten… oder ›Mista Bone‹ von …Twice Shy waren echte Last-Minute-Einfälle. ›Big Goodbye‹ von Psycho City genauso. Wir scheinen immer besonders gut zu harmonieren, wenn der Studiotermin kurz bevorsteht«, lacht Lardie. »Am Ende hatten wir etwas über zwanzig Songs, von denen wir die zehn ausgesucht haben, die uns am stärksten erschienen.«
Anschließend reist die Band von Kalifornien in die amerikanische Musikhauptstadt Nashville. Dort befindet sich das WireWorld Studio von Michael Wagener, wo die Lieder in ihre finale Form gebracht werden. »Bei allen Songs stand bereits das Skelett. Wir haben im Stadium der Vorproduktion lediglich noch kleinere Veränderungen an den Arrangements vorgenommen sowie hier und da etwas an den Texten gefeilt«, berichtet Wagener.
»Danach habe ich zunächst Schlagzeug und Bass für alle Songs aufgenommen, bevor wir einen Song nach dem anderen fertiggestellt haben. Vormittags die Gitarren und eventuell ein paar Keyboards, später den Gesang. Terry ist ein fantastischer Sänger. Am nächsten Tag kamen dann noch Background-Vocals und Gitarrensoli dran.« So arbeite er generell am liebsten, fügt Wagener hinzu. »Diese Methode hat den Vorteil, dass man in der Stimmung des jeweiligen Stücks bleibt. Wichtig war mir, dass die Blues-Einflüsse der Band immer deutlich zu hören sind. Und wir wollten natürlich ihren markanten Sound beibehalten.«
Zum Gelingen dieses Vorhabens tragen auf Full Circle auch subtile Referenzen an klassische Great White-Songs bei. So erinnert das Gitarren-Intro der Single ›Big Time‹ an den Anfang von ›Rock Me‹, Drum-Rhythmus und Atmosphäre von ›Never Let You Down‹ an ›House Of Broken Love‹. »›Big Time‹ ist definitiv sehr typisch für uns. Die Dynamik, der Tonartwechsel im Solo, die Art, wie unser Drummer Audie AC/DC-like trommelt«, nickt Michael Lardie. »Allerdings haben wir das gar nicht bewusst gemacht. Das fließt ganz organisch aus uns raus. Manche Passagen klingen mit Sicherheit nach Platten wie Hooked oder Once Bitten… Nur eben mit einem anderen Sänger.«
Doch nicht nur aus diesem Grund hat die Band, die bislang rund zwölf Millionen Platten verkauft hat, ihr neues Werk Full Circle getauft: »Zu Beginn unserer Karriere ging es nur um die Musik. Erst mit dem Erfolg kamen auch die Probleme: Streitereien, Drogenmissbrauch, Manager, die uns über den Tisch gezogen haben. Heute steht wieder die gemeinsame Kreativität im Vordergrund. Jemand hat mal zu mir den schönen Satz gesagt: Wenn du es lange genug in diesem Business aushältst, wirst du irgendwann wieder zum Musiker. Dieser Kreis hat sich für uns geschlossen.«
Dieser Artikel stammt aus ROCKS Nr. 59 (04/2017):
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