Sommer 1962: Ian Gillan alias Garth Rockett singt in einer Band namens The Moonshiners, als sich Tony Tacon, Gitarrist der Konkurrenz The Hi-tones, auf den Weg macht, um ihn abzuwerben. An einem Samstagmorgen radelt er mit einem Kumpel auf einem Tandem zu Gillan, trifft aber nur dessen Mutter an. Sie zeigt Tacon den Weg zum örtlichen Süßwarenladen, wo ihr Sohn zu einer Probe mit den Hi-tones am nächsten Tag überredet wird. Kurze Zeit später heißt die Band Jess Gillan And The Javelins, macht sich in der Region um London einen Namen und spielt zwischen Oktober 1962 und Dezember 1964 rund 200 Gigs.
Einer der regelmäßigen Auftrittsorte ist das Wistowe House in Hayes. »Da haben wir immer Donnerstagabend gespielt, jeder hat zehn Schilling gekriegt, was heute fünfzig Pence wären. Wenn es richtig rappelvoll war, waren da vielleicht fünfzig, sechzig Leute. Es gab keine Bühne, wir haben auf dem Boden gespielt. Ich fand das damals total aufregend. Und wir haben uns eine ganz schöne Fanschar aufgebaut«, erinnert sich Ian Gillan.
»Dann gab es Jugendclubs und die Pubs. Jeder Pub hatte einen Nebenraum, der vor allem für Hochzeiten oder Versammlungen genutzt wurde. Auch die waren sehr klein, aber wir hatten ja ohnehin nur sehr kleine Verstärker, zweimal dreißig Watt, mit zwei 12-Zoll-Lautsprechern. Ich hatte eine PA, die gerade so in diesen winzigen Räumen funktioniert hat, in denen das Kondenswasser von den Wänden tropfte. Jede Woche, wenn neue Songs herauskamen, besorgten wir uns die und spielten sie nach. Es ging ums Lernen, wie in der Schule. Nur mit dem Unterschied, dass man jeden Moment genossen hat.«
Die Setlist der Javelins besteht vor allem aus Songs angesagter Künstler aus Amerika: Ray Charles, Buddy Holly, The Coasters, Chuck Berry oder Sam Cooke. »Ich habe nicht im Entferntesten dran gedacht, eigene Musik zu schreiben. Ich hatte ja keine Ahnung, wie das geht. Obwohl…«, er zögert kurz, »naja, ich habe einen geschrieben, an den ich mich noch erinnere.«
Er singt ihn laut vor. Darin geht es — wie sollte es anders sein — um ein heißes Mädchen, das doch bitte keinen Mist machen soll. Und er klingt gar nicht mal schlecht. »Nein, wir haben das nie gespielt«, lacht er. »Wenn Du kein Genie bist, musst du eben erstmal dein Handwerk lernen. Ich konnte damals ja noch gar nicht richtig singen.«
Fast 55 Jahre später, im März 2018, trifft sich Gillan mit seinen alten Kollegen in den Chameleon Studios in Hamburg. Komplett abgerissen war der Kontakt zwischen ihnen nie: Ein Wiedersehen mit der Band gab es erstmals 1994. Das Resultat war das Album Sole Agency And Representation, das Cover-Versionen aus ihrer Sixties-Setlist enthielt. Ihre Plattenfirma lässt diese Scheibe im Presseinfo geflissentlich unter den Tisch fallen, was dem neuen Werk offenbar den Anstrich einer marketingwirksamen Premiere verleihen soll, und auch der Sänger scheint sich beim Interview seltsamerweise nicht mehr an das damalige Gewächs erinnern zu können.
Dabei verfolgt Ian Gillan & The Javelins das gleiche Konzept: Es enthält ebenfalls Interpretationen von Stücken, die sie in den Anfangstagen auf die Bühne brachten; 16 an der Zahl sind es, darunter ›High School Confidential‹ (Jerry Lee Lewis), ›Another Saturday Night‹ (Sam Cooke), ›Memphis, Tennessee‹ (Chuck Berry) und ›Mona (I Need You Baby)‹ (Bo Diddley).
Als sie im Frühjahr in Hamburg ankommen, sind die Gitarristen Tony Tacon und Gordon Fairminer, Bassist Tony Whitfield sowie Drummer Keith Roach bestens vorbereitet. Ihr Sänger hat mit seinem langjährigen Songwriting-Partner Steve Morris (der schon produziert hatte) Demos aufgenommen, die sie mit der Ansage bekommen haben, sechs Wochen lang wie verrückt zu üben. Bis auf die Aufnahmen 1994 hat keiner von ihnen nach der Javelins-Zeit ernsthaft Musik gemacht.
Stattdessen haben sie weiter in ihren Berufen gearbeitet: als Drucker, Taxifahrer oder Innenarchitekt für Marineschiffe. Berührungsängste mit dem alten Kumpel, der ein Rockstar geworden ist, gibt es aber auch 2018 nicht. »Ich denke, sie haben Respekt vor dem, was ich erreicht habe, aber in zwischenmenschlicher Hinsicht war es wie eh und je. Wir haben darüber in Hamburg geredet, nachdem wir mit den Aufnahmen fertig waren. Keiner von ihnen bedauert, nicht Musiker geworden zu sein. Jeder hat gesagt: Ich hatte ein fantastisches Leben, eine gute Arbeit, eine prima Familie.«
Für seine Mitstreiter war der jüngste Betriebsausflug nach Hamburg freilich eine Begegnung mit modernster digitaler Studiotechnik. Gillan ist sich sicher, »dass sie sehr besorgt waren, ob sie den Umgang damit auch wirklich gut hinkriegen würden«. Weshalb er mit einem psychologischen Trick gearbeitet hat, wie er erzählt: »Am Anfang haben sie die Tracks über Kopfhörer gehört, dazu sollten sie üben. Sie spielten also zu den gleichen Demos, die sie schon kannten. Dann haben wir die nach und nach ausgeblendet, und sie mussten auf eigenen Füßen stehen. Das war, als ob du das Fahrradfahren lernst. Erst ist die Hand des Vaters noch am Sattel, dann nimmt er sie unbemerkt weg — und du fährst ganz allein!«
Sie benutzen die gleichen Gitarren, die gleichen Verstärker wie in den Sechzigern — alles direkt eingestöpselt, ohne Effekte. Schon nach zwei Tagen sind die Grundaufnahmen im Kasten, es folgen nur noch Solo-Overdubs und das finale Abmischen. »Diese jungen Toningenieure nehmen ja alles digital auf. Aber trotzdem hörst du, wenn ich Atem hole, bevor ich singe, du hörst das Quietschen des Bass-Drum-Pedals.«
Sein Purple-Kollege Don Airey steuert von seinem Studio in England aus noch einige Pianoparts bei — und fertig ist ein Album, das im Sänger starke Jugenderinnerungen weckt: »Als wir mit den Aufnahmen anfingen, konnte ich kaum glauben, was ich hörte. Alles klang wieder ganz genauso wie 1963. Und da wurde mir klar: das ist nicht retro, das ist echt, das ist absolut authentisch. Ich spürte, wie sich die Haare auf meinen Armen aufrichteten. Gänsehaut! Es war, als wären wir wieder Kinder geworden. Einfach wunderbar.«
Für Deep Purple-Fans dürfte es höchst interessant sein, Gillan noch einmal in ganz anderen Stimmlagen und in einem anderen musikalischen Umfeld zu hören. Zwar hat er auch mit Roger Glover zusammen schon pop-affine Musik erschaffen. Und doch sei diese neuerliche Zeitreise ein besonders weiter Schritt zurück gewesen, der auch ihm als Profi einiges abverlangte.
»Es war eine Herausforderung«, stellt Gillan fest. »Bei einem Ray Charles-Song muss ich etwas jazzy sein, bei Bill Haley etwas zurückhaltender. Bei Liedern von Chuck Berry hingegen muss man mehr auf den perkussiven Klang der Worte achten.«
Eine Tour mit der Platte hält Gillan für unwahrscheinlich. Eher im Bereich des Möglichen lägen Kurzauftritte als Gast in Shows anderer Künstler oder im Fernsehen. Oder noch ein weiteres Album. »Ich denke, mit dieser Platte haben wir das geschafft, was wir uns vorgenommen hatten. Ich hoffe sehr, die Leute mögen sie.«
Dieser Text stammt aus ►ROCKS Nr. 66 (05/2018).