Der Frage, die er in diesen Tagen meist als erstes beantworten muss, greift Jake Kiszka gleich voraus: Nein, weder die Zukunft von Greta Van Fleet sei durch diese neue Bandspielwiese gefährdet, noch denke Chris Turpin ernsthaft darüber nach, die von ihm und seiner Ehefrau Stephanie Jean Ward in England als Duo betriebenen Ida Mae einzustampfen, die im Spannungsfeld von Folk, Akustik-Rock und Southern-Blues immer populärer wurden. Bei Mirador teilen sich beide Musiker die Gesang- und Gitarrenaufgaben, wobei Kiszka in allen Belangen die federführende und gesichtsgebende Rolle einnimmt: Ihr nun erschienenes erstes gemeinsame Album ist vollgepackt mit Kiszkas markanter Gitarrenarbeit mit allen wunderbaren Vintage- und am Klanguniversum von Led Zeppelin und Jimmy Page geschulten Sounds, die man von seiner Hauptband kennt. Hinzu kommt ein ordentlicher Schwung der Song- und Klangästhetik der Rival Sons, der ihre kraftvolle Interpretation der Folk- und Heavy-Blues-Mysterien zusätzlich attraktiv macht.
Persönlich kennengelernt hatten sich Kiszka und Turpin vor sechs Jahren, als Ida Mae drei ausverkaufte Shows der amerikanischen Classic-Rock-Durchstarter im Detroiter Fox Theatre eröffneten und Great Van Fleet im Anschluss auf einer Konzertreise durch Nordamerika begleiteten. Als Vorgruppe auserkoren hatte sie der 29-jährige Greta-Gitarrist höchstselbst.
»Ich bin sehr neugierig und schaue mir gerne etwas von anderen Gitarristen ab«, erzählt er. »Chris ist einfach phänomenal. Er hat eine völlig andere Technik und einen ganz anderen Ansatz als ich und dennoch habe ich sehr ähnliche Einflüsse wahrgenommen, was mich total fasziniert hat. Ich habe fast jeden ihrer Auftritte von der Bühnenseite aus mitverfolgt. Irgendwann kamen wir ins Gespräch, haben uns über unsere Lieblingsmusiker unterhalten und saßen mit unseren Gitarren nachts im Tourbus, haben Rotwein getrunken und alte Folksongs gespielt. Es hat sich eine wunderbare Chemie entwickelt.«
Es ist eine Chemie, die sich nicht zuletzt aus den eben doch recht unterschiedlichen musikalischen Inspirationsquellen der beiden Musiker speist. Kiszkas Faible für den britischen Blues-Boom, irische Folklore und sogar mittelalterliche Seemannslieder ist hinlänglich bekannt — sein britischer Kompagnon hingegen ist vor allem amerikanischen Blues-Urvätern wie Charlie Patton, Lightnin’ Hopkins oder Robert Johnson zugetan. Die coolen Kids ihrer Klasse sind sie mit diesen Hörgewohnheiten ganz sicher nicht gewesen, lacht Kiszka, der Turpin auf dem Höhepunkt der Corona-Welle schwer gelangweilt in sein Haus in Nashville einlud, um herauszufinden, wo es hinführt, wenn diese unterschiedlichen Vorlieben zusammenwirken.
»Eine kurze Weile war es ja ganz witzig, auf sich alleine gestellt zu sein und tun zu können, wozu immer man Lust hatte. Aber der Spaßfaktor hielt sich doch ziemlich in Grenzen. Chris wohnte zu der Zeit ebenfalls in Nashville, und ich fragte ihn, ob er nicht einfach mal mit seiner Gitarre rüberkommen wolle. Dass daraus ein Projekt entstehen würde, hätte ich gar nicht unbedingt erwartet.«
Doch als Turpin schließlich wieder nach Hause fährt, sind zwei Stücke komplett im Kasten. In diesem Tempo habe er noch nie gearbeitet, muss Kiszka erstaunt feststellen und einräumen, dass die Ideenfindung mit seinen Brüdern Josh (Gesang) und Sam (Bass) bei Greta Van Fleet sehr viel schleppender vonstattengehe.
»Es ist eben schon ein Unterschied, ob du mit deinen Brüdern oder mit deinem Kumpel Musik machst. Brüder sind halt, na ja, eben Brüder. Mit Chris war das leichter, ich habe eine größere Freiheit gespürt. Die Hälfte der Songs hätte Josh wahrscheinlich sowieso abgelehnt. Die Wahrheit ist aber auch, dass sich Greta Van Fleet in eine Richtung entwickelt haben, die über das musikalische Schema von Mirador weit hinausgeht. Diese Stücke hätten in dem anderen Umfeld gar keinen Sinn gemacht.«
Für die beiden Freunde hingegen erweisen sie sich als perfekt. Nach weiteren vier Tagen fällt Material für ein komplettes Album ab, nichts davon minderwertig. Kiszka musste erstaunt feststellen, dass die Songs sehr viel substanzieller ausgefallen waren, als er es jemals für möglich gehalten hätte. »Unsere beiden Stimmen und die unterschiedlichen Gitarren-Spielweisen ergänzen sich perfekt. Als ich das erkannt habe, meinte ich zu Chris, dass dies das Zeug zu etwas Ernsthaftem hätte. Er hatte das da schon längst bemerkt.«
Geeignete Mitmusiker für das Projekt zu finden, oblag Turpin. Bestens in der Londoner Underground-Szene vernetzt, machte er Kiszka mit Trommler Mikey Sorbello und Bassist Nick Pini bekannt, die vom Fleck weg einen guten Eindruck hinterließen. »Wie unsere Rhythmusgruppe überhaupt klingen sollte, wusste ich nicht, sondern nur, dass ich nicht den typischen Rock-Stil wollte. Mit Mikey und Nick hatte ich etwas gefunden, wonach ich überhaupt nicht gesucht hatte. Sie bringen eine gewisse jazzige Leichtigkeit in ihrem Spiel mit. Sie können aber auch ordentlich Druck machen, das war sehr wichtig für die Soundfindung des Albums.«
Im Laufe des Jahres 2024 bestanden Mirador schließlich ihre Bühnen-Feuertaufe, als sie Greta Van Fleet im Rahmen ihrer Starcatcher-Welt-Tournee in den großen Arenen als Anheizer begleiteten. Im ländlichen Savannah, Georgia, nahmen sie sodann unter der Ägide von Star-Produzent Dave Cobb ihr Album weitgehend live in nur knapp zwei Wochen auf. »Die Energie dieser Auftritte hat uns im Studio beflügelt und der Platte ihren ganz eigenen Spirit verliehen. Der Charakter der Lieder hatte sich dramatisch verändert.«
So etwa ›Fortune’s Fate‹ oder ›Blood And Custard‹, die bei nächtlichen Jam-Sessions auf alten akustischen Gitarren entstanden waren und nun kraftvoll und wie stark elektrisierte Folk-Lieder anmuten. Doch nur die Energie der Live-Shows alleine ist nicht dafür verantwortlich, dass das Resultat bombastischer klingt als ursprünglich geplant.
»Zum Aufwärmen haben wir gerne ›Where Did You Sleep Last Night?‹ von Leadbelly oder ›Black Water Side‹ von Bert Jansch gespielt, Songs, die im ersten Moment simpel anmuten mögen, aber unter der Oberfläche doch sehr komplex geraten sind. So in etwa hatte ich mir unsere Platte anfangs vorgestellt. Es war Chris, der irgendwann den Vorschlag machte, die Amps aufzureißen und zu schauen, was passiert. Nun sind es immer noch Folksongs, aber gespielt mit der Power einer Rock’n’Roll-Band.«
Dass diese Band auch das Potenzial besitzt, Kiszkas Stammband herauszufordern, macht das eröffnende ›Feels Like Gold‹ deutlich, der einzige Song, der auf einer elektrischen Gitarre komponiert wurde. »Chris liebt den rudimentären Detroit-Rock von Künstlern wie MC5 oder den Stooges, und wir wollten diesen Zeitgeist ein wenig einfangen. Der Riff dazu ist mir nachts um halb drei eingefallen und war geradezu prädestiniert dafür, die Nachbarn aufzuwecken.«
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