Warren Haynes

Million Voices Whisper

Concord
VÖ: 2024

Wunderschön und musikalisch ungemein wertvoll

Die Ankündigung von Million Voices Whisper vor einigen Wochen erfolgte so ziemlich aus dem Nichts — immerhin ist das jüngste Album der von Warren Haynes geleiteten Gov’t Mule gerade mal ein gutes Jahr alt. Und noch etwas überrascht: Es handelt sich bei seinem Solo-Gang um eine Platte mit neuer Musik, nicht etwa um Dreams & Songs – A Symphonic Journey, das bereits 2019 bei zwei Konzerten mit dem Sinfonieorchester seiner Heimatstadt Asheville in North Carolina entstand und eine der wohl spannendsten Rockband-Orchester-Symbiosen überhaupt dokumentiert.

Deren Veröffentlichung lässt nun also noch etwas länger auf sich warten. In gewisser Weise darf man die Existenz von Million Voices Whisper als Flucht in eine weniger komplizierte Welt interpretieren.

Peace… Like a River (2023) wurde zum letzten Album von Gov’t Mule mit Jorgen Carlsson, der nur kurz nach der Veröffentlichung überraschend ausstieg und dessen Weggang nach 16 gemeinsamen Jahren durchaus einen Einschnitt in die Wirkungsweise dieses begnadeten Heavy-Blues- und Jam-Rock-Kollektivs bedeutet, das sich Haynes als Rückzugsort erst wieder ein Stück weit erschließen muss.

Zu Carlssons Nachfolger wurde unlängst Kevin Scott berufen, der nun auch auf Million Voices Whisper am Bass zu hören ist und ein ganz wunderbares Ensemble komplettiert: An der Hammondorgel zaubert John Medeski, der unter anderem durch das furiosen Jam-, Groove- und Jazzrock-Ensemble Medeski, Martin & Wood bekannt wurde, das mehrfach mit John Scofield kooperierte. Auch Schlagzeuger Terence Higgins (Mad Skillet) stammt aus dem Umfeld des B3-Spezialisten. Und dann ist da freilich noch Derek Trucks, mit dem Haynes anderthalb Jahrzehnte lang als Gitarrendoppel der Allman Brothers Band zusammenwirkte.

Die beiden zumindest in drei Stücken auf Platte miteinander kommunizieren zu hören, ist ein großes Geschenk — gleich im entspannten ›These Changes‹, dessen sanfte Bläser ähnliche Wirkung zeigen wie die ersten Sonnenstrahlen, die einen neuen, perfekten Sommertag begrüßen. Der positive, aufbauende Vibe des Eröffnungsstücks zieht sich weiter durch dieses Album, das Haynes zwar durchaus in relativer Soul-Nähe aufgebaut hat, dem (Bühnen-)Treiben von Mule der zurückliegenden Jahren aber erheblich näher steht als Man In Motion, das Haynes 2011 mit offensivem Bläser-Pepp und begleitet von Chorsängerinnen als eindeutiges Statement des Rhythm’n’Blues und Southern-Soul erdacht hatte.

Kommen hier Bläser zum Einsatz, könnte man meinen, einer stark verschlankten und von Haynes übernommenen Tedeschi Trucks Band zu lauschen. Großartig ist zudem ›Day Of Reckoning‹, das mit seinen Wendungen und starken Gesangsharmonien ein wunderschönes und musikalisch ungemein wertvolles Classic-Rock-Album krönt, auf dem Gov’t Mule ebenso anklingen wie Gospel, Soul, The Band, die späten Beatles, die Allmans und zuweilen auch Grateful Dead (›Life As We Know It‹).

(9/10)
TEXT: DANIEL BÖHM

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