In ihrer bald vier Dekaden andauernden Karriere haben Harem Scarem etliche Höhen erklommen und Tiefen durchschritten. Die kurzzeitige Umbenennung in Rubber zu Beginn des Jahrtausends nutzten die aus Toronto stammenden Musiker dazu, ihren stark vom Power-Pop zehrenden Stil zeitgenössisch auszuweiten, ehe sie nach zwei Platten wieder zu ihrem alten Namen zurückkehrten, unter dem sie nicht zuletzt in Japan irrsinnig erfolgreiche Hardrock-Perlen wie Harem Scarem (1991) und Mood Swings (1993) veröffentlicht hatten. Ganz die Zeit zurückgedreht hatten sie aber nicht: Gerade Weight Of The World (2002) und Higher (2003) gerieten zum Musterbeispiel dafür, wie sich ihre sonnige Melodieschule ganz ohne nostalgischen Muff in ein aktuelles und sehr lebendiges Zeit-Umfeld übersetzen ließ. Dass sich der Titel ihres 15. Studio-Albums Change The World dann auf gespenstische Weise als prophetisch erweisen würde, hatten die Kanadier nicht auf der Rechnung: Rund zwei Wochen nach Veröffentlichung im März 2020 veränderte Covid die Welt auf drastische Weise — und durchkreuzte auch die Pläne von Harem Scarem.
»Es war verrückt«, seufzt Harry Hess. Schließlich hatte seine Band entgegen ihrer Gepflogenheiten etliche Konzerte gebucht. »Unser Debüt beim großen Sweden Rock Festival stand bevor, um das wir auch einige Gigs in Deutschland, Holland, Belgien und der Schweiz organisiert hatten. Durch den ersten Lockdown wurde alles auf spätere Termine verschoben, die dann aber ebenfalls nicht stattfinden konnten. Es mussten Flüge umgebucht und unsere beruflichen Verpflichtungen koordiniert werden. Letztlich haben wir alles abgeblasen, Harem Scarem hinten an gestellt und uns auf andere Projekte konzentriert.«
Während sich Gitarrist Pete Lesperance im Country austobt und in diesem Sektor gerne mit unterschiedlichen Musikern auf der Bühne steht, kehrt Hess in sein Studio zurück, wo er Scheiben anderer Künstler produziert und auch zwei Alben des Projekts First Signal einsingt: Bei Closer To The Edge (2022) und Face Your Fears (2023) muss der 56-Jährige keinen kreativen Input bringen, was ihm sehr gelegen kommt.
»Bei Harem Scarem schreibe ich die Songs und produziere die Scheiben, bin also viel stärker involviert als bei solchen Auftragsarbeiten«, erklärt Hess, der ständig neue Musik schreibt und diese sehr projektbezogen angeht. »Früher, als ich bei Universal unter Vertrag stand, war ich Vollzeit-Songwriter. Diesen Job habe ich täglich ausgeübt, bin um die Welt geflogen, um mit anderen kreativen Köpfen zusammenzuarbeiten und Demos aufzunehmen. Mich einfach nur hinzusetzen und ohne einen bestimmten Zweck Songs zu schreiben, das mache ich seit zwanzig, dreißig Jahren nicht mehr. Dafür gibt es zu viele andere Dinge, die erledigt werden müssen.«
Die Zeiten, in denen er sich ausschließlich als Mitglied von Harem Scarem definierte, sind für Harold „Harry“ Hess lange vorbei. Zwar blickt er voller Freude auf jene Anfangsjahre zurück, als der Vierer in Kanada beim Branchenriesen Warner unter Vertrag stand und sich alles um die Belange der Band drehte, will aber die Entwicklung der späteren Jahre nicht missen. »Ich habe mir mein eigenes Studio eingerichtet und damit begonnen, an den Platten anderer Musiker zu arbeiten. Das ist für mich weitaus spannender, als nur der Sänger von Harem Scarem zu sein und ein recht eindimensionales Leben zu führen.«
Dass auch dieser Job seine Tücken und Herausforderungen besitzt, stellt Hess bei jeder neuen Albumproduktion in zunehmendem Maße fest. Mit mehr als 460 auf seinen Namen registrierten Liedern fällt ihm immer schwerer, sich bei vermeintlich neuen Ideen nicht selbst zu kopieren. »Ich glaube, mehr als 200 meiner eigenen Titel bekomme ich aus dem Stegreif nicht zusammen, und weniger als die Hälfte davon könnte ich auf Zuruf vorsingen«, lacht Hess. »Aber auch Pete geht es nicht anders. Er hat mir auch diesmal wieder Gitarrenriffs vorgespielt, die wir bereits auf früheren Produktionen verwendet haben, etwa bei einer Nummer vom Album Overload von 2005, die wir uns erst zum Vergleich anhören mussten, ehe wir die Idee in die Tonne getreten haben.«
Es ist eine beeindruckende Leistung, dass Harem Scarem auf Chasing Euphoria ihrem zur Marke gewordenen Sound treu bleiben, ohne dabei die packende Energie und Frische vermissen zu lassen, die das Werk meilenweit von pflichtschuldigen Aufgüssen früherer Heldentaten abheben. Dabei sieht Harry Hess durchaus Unterschiede zu den letzten Alben seiner Band.
»Wir haben uns dieses Mal entschieden, uns nicht bewusst zu verkomplizieren, sondern einfach Songs zu schreiben, die sich natürlich entfalten. Normalerweise suchen wir gezielt nach unerwarteten Wendungen in den Songs, nach ungewöhnlichen Strukturen oder unvorhersehbaren Parts. Doch dieses Mal haben wir das Gegenteil getan: Wenn uns eine Idee gefiel, haben wir sie einfach durchgezogen, anstatt zwanghaft zu versuchen, alles komplexer zu gestalten. Dadurch klingen die Nummern letztendlich natürlicher und flüssiger.«
Für den Frontmann bringt besonders der Titelsong diese Philosophie auf den Punkt, den er für eine der stärksten Kompositionen hält, die er seit vielen Jahren vollenden konnte. »Der Track trifft genau diesen Sweet Spot zwischen leicht düsteren Elementen und der melodischen Eingängigkeit, die für uns typisch ist. Der Refrain sollte dabei nicht nur ins Ohr gehen, sondern auch lyrisch eine Aussage haben. Genau das ist das Ziel bei jedem Song: catchy, aber mit Substanz!«
Dass auch erfahrene Songwriter wie Hess und Lesperance nicht vor Anleihen bei großen Kollegen gefeit sind, zeigt sich beim Album-Rausschmeißer ›Wasted Years‹, der Erinnerungen an Don Henleys Chartstürmer ›The Boys Of Summer‹ aufkommen lässt. »Sehr gut beobachtet«, lacht der darauf angesprochene Hess. »Als wir an der Nummer gearbeitet haben, war das tatsächlich irgendwann unser Pseudo-Titel, weil uns die Parallele ebenfalls aufgefallen ist. Von einer Kopie sind wir weit entfernt, aber die Stimmung des Songs ist ähnlich. So ging es uns in der Vergangenheit schon häufiger. Gerade, wenn die Texte noch nicht stehen, geben wir Liedern manchmal einen griffigen Arbeitstitel. ›Had Enough‹ von Mood Swings kennen Pete und ich bis heute als ›Van Halen‹, einfach weil das Stück klanglich und vom Aufbau her an Eddie und seine Jungs erinnert.«
Obwohl Harry Hess 1991 beim Debüt von Harem Scarem mit überdimensionierter Pudelfrisur, der kraftvollen Ballade ›Honestly‹ sowie melodischen Pop-Rockern der Marke ›Slowly Slipping Away‹ und ›With A Little Love‹ ins Rampenlicht tritt, hat der damals 23-Jährige bereits eine metallische Vergangenheit vorzuweisen. Schon während seiner frühen Schulzeit spielen harte Klänge für Hess eine bedeutende Rolle, wie er sich lebhaft erinnert.
»In den Achtzigern war Musik ein wirklich großer Teil dessen, wer du warst. Wenn du Iron Maiden und Judas Priest mochtest, warst du ein Rocker, der sich von denen abgegrenzt hat, die lieber Wham! oder Depeche Mode gehört haben. Musik definierte, mit wem du dich umgeben hast. Damals waren Musikgeschmäcker fast schon identitätsstiftend. Man gehörte zu einer bestimmten Szene und fand dort seine Leute. Diese starke Trennung sehe ich heute nicht mehr in dieser Form, aber damals war das ein riesiges Ding.«
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Schon mit 13 oder 14 Jahren beginnt Hess, in Bands zu spielen. Für ihn ist es das ultimative Ziel, als Musiker wahrgenommen zu werden, und dieser Traum kann für den jungen Kanadier nicht schnell genug in Erfüllung gehen. Mit seiner Metal-Truppe Blind Vengeance nimmt der Sänger, der hier schon an fast jedem Song beteiligt ist, 1984 ein Album auf, was nicht zuletzt dank elterlicher Unterstützung möglich ist. »Während unserer Zeit im Studio feierte ich meinen 16. Geburtstag — das war absurd jung! Ich musste immer einen Zettel von meiner Mutter vorlegen, um mit der Band überhaupt in Bars auftreten zu können. Das war damals erlaubt, wenn ein Erziehungsberechtigter schriftlich bestätigte, dass es okay war. Ich war buchstäblich ein Teenager in einer Erwachsenenwelt.«
Blind Vengeance spielen klassischen, klischeebeladenen Heavy Metal — eine Welt, die Harry Hess schnell zu eng wird. Seine Vision ist größer: Ihn fasziniert die Studioarbeit nicht nur aus Sicht eines Performers, er will auch die Hintergründe verstehen, interessiert sich für die Technik, das Songwriting, den Aufnahmeprozess. »Ich wollte nicht nur singen, sondern das gesamte Klangbild einer Platte mitgestalten. Das führte dazu, dass ich mich intensiv mit Tontechnik und Musikproduktion beschäftigte. Während viele Musiker nur den kreativen Part im Blick hatten, faszinierte mich das große Ganze: wie ein Album produziert wird, wie man es aufnimmt und mischt, um das Beste herauszuholen.«
Diese Leidenschaft hat Hess nie losgelassen. »In den letzten 15 Jahren ist das Mastering von Alben sogar zu meiner Haupttätigkeit geworden. Ich liebe es, mit anderen Künstlern zu arbeiten und verschiedene Sounds zu erschaffen. Als Sänger einer Band hat man eine feste Identität, man klingt immer nach sich selbst, egal was man tut. Doch wenn ich mit anderen Musikern arbeite, kann ich in ganz unterschiedliche Welten eintauchen und mit verschiedenen Stilen experimentieren. Das hält mich kreativ wach und inspiriert mich enorm, was am Ende auch Harem Scarem zugutekommt.«
Dieser Text stammt aus ►ROCKS Nr. 106 (03/2025).