Dass nichts schwerer ist, als einem gefeierten Überraschungshit einen zumindest ebenbürtigen Nachfolger an die Seite zu stellen, haben schon viele Macher großer Hollywood-Blockbuster erfahren. Auch Nestor spürten erstmals Druck: War Kids In A Ghost Town das unbeschwerte Resultat einer Rückbesinnung auf die eigene Jugend, die fünf alte Freunde aus der schwedischen Provinz nach Jahrzehnten wieder zusammenführte und in dunklen Pandemiezeiten für positive Abwechslung sorgte, sieht sich Macher Tobias Gustavsson nunmehr mit einer hoffnungsvollen Erwartungshaltung konfrontiert, die er selbst aus eigener Anschauung kennt.
»Als Fanboy weiß ich, wie es ist, wenn man eine neue Band entdeckt, sich in ihre Platte verliebt und anschließend vom nächsten Album enttäuscht wird«, bekennt der Sänger und Songwriter, der in den achtziger Jahren mit Gitarrist Jonny Wemmenstedt im heimischen Kinderzimmer die Scheiben ihrer Helden bis ins Detail analysierte. »Es war aber gut, diesen Druck zu spüren und davon angetrieben zu werden. Ich wusste, dass ich noch weitere Songs in mir habe. Aber als ich die ersten zwei, drei Demos fertig hatte, das Material ein paar Wochen sacken ließ und dann merkte, dass ich auf der richtigen Spur war, habe ich schon eine gewisse Erleichterung gefühlt.«
Auch wenn Wemmenstedt an gut der Hälfte der Songs beteiligt ist, gibt doch der erfahrene Songwriter Gustavsson die musikalische Richtung vor. »Ich habe eine gewisse Vision, was Nestor betrifft, und die versuchen wir gemeinsam umzusetzen«, erläutert der Sänger und Multiinstrumentalist, der sich über die Jahre in unterschiedlichsten Genres mit Bosson, Itchycoo und Straight Frank ausgetobt und Stücke für Boy- und Girlbands wie E.M.D. und No Angels geschrieben hat.
»Natürlich kann ich Musik für alle Stilrichtungen komponieren, aber dieser Hardrock- und AOR-Sound meiner Jugend liegt mir einfach am Herzen und fühlt sich richtig und natürlich an. Deshalb habe ich auch nicht mehr das Gefühl, stilistisch experimentieren zu müssen. Allerdings bin ich diesmal etwas tiefer in die Materie eingestiegen. Bei Kids In A Ghost Town waren starke Spuren von Kiss in ihrer Phase von Lick It Up bis Crazy Nights vertreten, dazu Sachen wie Van Halen, Twisted Sister, Bon Jovi oder Europe. Wenn ich Teenage Rebel mit etwas Abstand betrachte, geht einiges mehr ins AOR-Genre und man kann den Einfluss von Bands wie Survivor, Toto und auch Journey heraushören.«
Als Dank an die von ihm liebevoll Nestorianer genannten Anhänger der Band, die sich in den letzten drei Jahren um den Fünfer aus Falköping versammelt haben, sieht Gustavsson den Opener des Albums. ›We Come Alive‹ ist sein Gegenentwurf zum im Intro verarbeiteten ›The Law Of Jante‹, das auf den dänisch-norwegischen Schriftsteller Aksel Sandemose zurückgeht und das Klima der angepassten Unterdrückung in einer Kleinstadt beschreibt.
»Ich habe mich daran erinnert, wie ich nach der Schule die ersten öden Jobs hatte, in denen ich von Montag an nur aufs Wochenende hingearbeitet habe. Egal ob du auf der Bühne stehst oder davor, bei einem Konzert werden Publikum und Band im besten Fall eine Einheit, die beflügelt und uns alle aus dem Alltagstrott herausreißt. Dazu kommt, dass es diese Menschen sind, die Eintrittskarten und Shirts kaufen, die eine Rockband am Leben erhalten.
Denn ohne ihre Liebe zu unserer Musik hätte es wenig Sinn, weitere Platten aufzunehmen. Dass Teile aus Ronald Reagans Abschiedsrede zum Ende seiner Präsidentschaft aus dem Jahr 1989 im Song auftauchen, setzt einfach nur den passenden Zeitstempel. Damals hat für uns alles angefangen, und wir sind trotz der langen Unterbrechung nun ziemlich weit gekommen!«
Auch auf Teenage Rebel wandern Nestor auf den musikalischen Spuren ihrer Idole — und die Schweden lassen es sich nicht nehmen, wieder einige kurze Querverweise einzubauen. So erinnert die Strophe im Titelsong an Bon Jovis ›Wild In The Streets‹, und dass bei der gefühlvollen Ballade ›The One That Got Away‹ Chicago Pate standen, will der Bandkopf überhaupt nicht leugnen.
»Mit solchen Anspielungen zolle ich einfach jenen Bands Tribut, die in meinen prägenden Jahren großen Einfluss auf mich hatten. ›The One That Got Away‹ basiert auf der Erinnerung an eine Jugendliebe, die man aus den Augen verloren hat. Was macht diese Person heute, wo lebt sie, und was hätte werden können, wenn die Dinge damals anders gelaufen wären? Mir war klar, dass das der Stoff für eine klaviergetragene Ballade ist, für die ich meinen alten Yamaha DX7-Synthesizer aus den Achtzigern ausgemottet habe. Natürlich erinnert der Aufbau und Sound an ›You’re The Inspiration‹, ist aber weit von einer trostlosen Kopie entfernt.«
Für das Video zu ihrer ersten Single ›Victorious‹ wagen sich Nestor auf dickes Eis. Ganz in der Tradition des 1986er Films Bodycheck mit Rob Lowe präsentieren sich die Musiker als Eishockeyspieler — eine Rolle, die manchen von ihnen und insbesondere Gustavsson kaum schauspielerisches Talent abverlangt hat.
»Genau wie unser Bassist Marcus Åblad bin ich früher tatsächlich dem Puck hinterhergejagt«, lacht der Sänger, der seit seinem Umzug nach Spanien nur noch äußerst selten auf den Kufen stehen kann. »Ich musste mich erst wieder einlaufen, aber weil wir bei Nestor alles sehr gewissenhaft angehen, haben wir seit Weihnachten ein rigoroses Training absolviert, um im Clip anständig rüberzukommen. Wir sind natürlich keine Profis, können aber wenigstens den Anschein erwecken.«
Mit dem emotionalen ›Daughter‹ findet Teenage Rebel einen für Tobias Gustavsson ganz persönlichen Abschluss, der seinen Ursprung in einem Computerspiel hat.
»Ich arbeite schon seit vielen Jahren für diese Industrie und erschaffe Musik für Videogames. Als ich ein Budget für fünf Rocksongs für eine Erweiterung der Städtebausimulation Cities: Skylines bekam, war das quasi der Startschuss für unsere Nestor-Reunion. Wir haben uns getroffen und im Studio ein paar Songs aufgenommen, die auch auf dem dazugehörigen Soundtrack erschienen sind.
Das ging alles noch mehr in Richtung Audioslave, aber weil darunter ein Stück namens ›Father To A Son‹ war, das ich für meinen Jungen geschrieben habe, war klar, dass ich auch meiner Tochter ein Lied widmen möchte — nicht zuletzt, weil die Kleine mich jahrelang dazu gedrängt hat«, lacht der Sänger, der die Idee eines Duetts aber schnell wieder verwirft.
»Das hat sie einfach zu sehr unter Druck gesetzt. Ich bin mit dem Resultat aber sehr zufrieden, das Stück bedeutet mir eine Menge. Und auch wenn sie es nicht zugeben möchte, ist meine Tochter wohl auch ein kleines bisschen stolz darauf.«