Die Idee war nett, aber längst nicht das Erhoffte: 35 Jahre nach der Erstveröffentlichung hatte sich der Studio-Visionär Bob Ezrin daran gemacht, die Master-Bänder von Destroyer abzustauben und im Produktionsprozess verworfene oder verlorengegangene Aufnahmen nachträglich hinzuzufügen. Zwar durfte sich der Kiss-Nerd freudig in das Analyseabenteuer stürzen und über manchen Unterschied zwischen Destroyer Resurrected und dem Original staunen — wirklich verbessert wurde dieser seit dreieinhalb Dekaden tadellose Klassiker dadurch freilich nicht. Für die nächste Sonder-Ausgabe eines ihrer Klassiker-Alben hatten Kiss nun tatsächlich eine richtige Deluxe-Edition im Sinn, für deren gelungene Konzeption und Umsetzung niemand geringerer als der aktuelle Kiss-Gitarrist Tommy Thayer verantwortlich war.
Als Love Gun im Frühjahr 1977 Form annimmt, sind Kiss längst die größte Rock-Band der Vereinigten Staaten. Unermüdlich und mit cleverem Geschäftssinn haben sie seit Jahren am Ausbau ihrer Karriere gearbeitet, zuletzt unter Dauerstrapazen, die schleichend ihren Tribut zollen. Speziell die Zusammenarbeit mit ihrem Gitarristen gestaltet sich zunehmend zermürbend — Ace Frehley fühlt sich immer stärker zu Drogen hingezogen. Und doch gelingt ihnen unter der Ägide von Produzent Eddie Kramer ein weiteres phänomenales Hardrock-Epos, das die Ansätze der beiden im Vorjahr erschienenen LPs Rock And Roll Over (energetisch, live, kompakt) und Destroyer (kunstfertig und bombastisch) zusammenführt: Es ist das letzte Album der klassischen Kiss-Ära und das erste, auf dem alle vier Bandmitglieder als Sänger in Erscheinung treten.
Frehleys Beitrag im vorzüglichen ›Shock Me‹ wird zur Legende: Seine Premiere als Lead-Sänger findet auf dem Rücken liegend im abgedunkelten Studio statt. Auf der Demo-Fassung der Lolita-Hymne ›Christine Sixteen‹ musizierten die noch unbekannten Eddie und Alex Van Halen; Frehley muss auf Geheiß von Simmons das Solo eins zu eins übernehmen. Fulminant gerät das Titellied, eine anrüchige Sex-Ode von Paul Stanley, kaum weniger großartig gelingt das antreibende ›I Stole Your Love‹: Nur zwei weitere Prachtstücke, die Love Gun zu einem der besten und wertvollsten Kiss-Werke der Siebziger machen.
Die Klangqualität dieser neuen Deluxe-Edition ist eine außerordentliche Verbesserung gegenüber den vorherigen CD-Ausgaben und bereits Grund genug, sich Love Gun ein weiteres Mal in die Sammlung zu stellen. Das auf einer zweiten Scheibe beigepackte Zusatzmaterial ist aller Ehren wert, wenngleich diplomierte Kissologen freilich noch von ganz anderen Schätzen träumen: Sieben Demos sind hierauf zu finden, darunter Unveröffentlichtes wie ›Much Too Soon‹ oder ›I Know Who You Are‹, das Gene Simmons ein Jahr später für sein erstes Solo-Album neu aufnimmt und in ›Living In Sin‹ umbenennt.
Interessant ist auch die Aufnahme, in der Paul Stanley den Titelsong seziert und erklärt. Dazu gibt’s ein Simmons-Interview vom 12. Juli sowie drei Live-Stücke, die bei einem Konzert am 20. Dezember 1977 in Landover, Maryland mitgeschnitten wurden. Neue Begleittexte gibt’s obendrein: verfasst wurden sie von Def Leppards Joe Elliot und Kiss selbst.