The Rolling Stones

Hackney Diamonds

Universal
VÖ: 2023

Ohne Altersbonus zwingend und vital

Auch wenn bis dahin nur wenig darauf hindeutete: Der Tod von Charlie Watts vor zwei Jahren hat mit schonungsloser Wucht die Endlichkeit der aktiven Rolling Stones offenbart. Es ist schwer möglich, sich Hackney Diamonds deshalb ohne eine gewisse Schwermut zu nähern — mit recht großer Wahrscheinlichkeit wird das nach europäischer Zählweise 24. Studio-Album dieses 1962 gestarteten und alles überdauernden Rock-Phänomens das letzte sein.

Das Beachtliche an dieser Platte ist, dass sie sich jeden Altersbonus, jede Sonderbehandlung und jede sonstige noch so nachsichtige Berührung mit Samthandschuhen scharf verbittet. Denn auch wenn man den unvergleichlichen Watts gerne häufiger gehört hätte als in den beiden bereits 2019 mit ihm eingespielten Nummern ›Mess It Up‹ (eine energetische Stones-Funk- und Tanz-Nummer mit lässig verzahnter Gitarrenarbeit von Keith Richards und Ronnie Wood) und ›Live By The Sword‹ (in dem neben Watts auch Bill Wyman und Elton John mitwirken), ist dieses überwiegend mit Schlagzeuger Steve Jordan entstandene Album in allen Belangen besser, zwingender und in den Songs vitaler als Bridges To Babylon (1997) und das entsetzlich enttäuschende A Bigger Bang (2005) zusammen.

Es fällt schwer zu glauben, dass Mick Jagger kürzlich 80 geworden sein soll, ihm Keith Richards im Dezember nachfolgen wird und Ronnie Wood in seinem Pass 76 Lebensjahre auszuweisen versucht. Welch Geschenke und wunderbare Echt-Rock-Nummer ›Driving Me Too Hard‹ oder das kilometertief arrangierte, sentimentale ›Depending On You‹ doch sind, in denen man sich verlieren kann — bis einen ›Bite My Head Off‹ mit all seinem bissigen Punkrock-Drall (Some Girls, 1978) ins Jetzt zurückpeitscht.

Dass hier ausgerechnet Paul McCartney den Bass bedient, macht die rabaukige Nummer nur noch besser. Auch in ›Whole Wide World‹ bleibt der Schnodder (und auch der Some Girls-Vibe) bestehen. ›Dreamy Skies‹ dagegen ist jener Zeit verbunden, in der die Stones auf Beggars Banquet und Let It Bleed ihre himmlischen Bekenntnisse zur Roots-Musik Amerikas formulierten, Richards alten Country-Blues und neue Gitarrentunings für sich entdeckte und sie akustisch arrangierte Stücke mit spröden Gitarrenläufen und Klavier durchzogen.

Master Keith durfte schon mal stärkere Nummern singen als hier — Spaß macht das klassische ›Tell Me Straight‹ trotzdem. In ›Sweet Sounds Of Heaven‹ schenken uns die Stones eine von Gospel aufgeladene Rhythm’n’Blues-Herrlichkeit, in der Stevie Wonder am Klavier und Lady Gaga als famose und vollgeerdete Chorsängerin mitwirken.

Und dann ist es da, das Finale mit ›Rolling Stone Blues‹ als von Richards und Jagger intensiv zelebrierter Akustik-Blues, der zuletzt auch gut auf Blue & Lonesome gepasst hätte und mit dem sich nun der ganz große Kreis in aller Vollkommenheit zu schließen beginnt: Erstaunlich, dass die Stones diesen Klassiker von Muddy Waters, der ihnen einst zu ihrem Namen verhalf, noch nie zuvor für eine Platte aufgenommen haben.

 

(8.5/10)
TEXT: DANIEL BÖHM

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