Casandra's Crossing

Garden Of Earthly Delights

Frontiers
VÖ: 2024

Frischer Wind im Lynch-Regal

Der Geschichte hinter Garden Of Earthly Delights haftet etwas genauso Märchenhaftes an wie dem fantasievollen Cover-Artwork. Als die singende Gitarristin Casandra Carson mit einigen Kollegen ihrer Band Paralandra ein Konzert von Lynch Mob besuchte, bei denen ein Freund als Bassist eingestiegen war, stellte dieser sie vor der Show George Lynch vor und lobte, sie sei als Fan dermaßen textsicher, dass sie selbst abseitigere Lynch-Klassiker wie ›Street Fighting Man‹ problemlos und notfalls ganz spontan gemeinsam mit der Band singen könne.

Tatsächlich sollte es erst bei ihrer nächsten Begegnung einige Monate später dazu kommen; der sich ergebende Nerd-Talk der völlig überfahrenen Sängerin mit dem einstigen Gitarrenhelden von Dokken aber baute bereits eine Verbindung zwischen den beiden auf.

Als Lynch schließlich an einer Platte arbeitete, die das zweite Album von Dirty Shirley werden sollte, für die ihm durch den unpässlich gewordenen Dino Jelusick ein geeigneter Sänger fehlte, bot er kurzerhand Carson an, die neuen Lieder zu übernehmen und mit ihm an weiteren zu arbeiten. Am Ende verewigte er die junge Amerikanerin zu ihrer großen Überraschung sogar im Namen dieses plötzlich neu entstandenen Bandprojekts. Er tat gut daran, die Schmutz-Shirley zur Ruhe zu betten und Casandra’s Crossing ein neues, noch unbeflecktes Kapitel in seinem Schaffen zu widmen. Denn einfach nur ein weiteres Album im gut bestückten Lynch-Regal ist Garden Of Earthly Delights keinesfalls.

Carson hat frischen Wind in die Welt des Gitarristen gebracht, der sich hier — bei allem markanten Gewicht seines so charakteristischen Spiels — den Luxus gönnen kann, auch mal ein paar Schritte zurückzutreten. Mit Paralandra, bei denen ihr Vater die Rolle des ersten Gitarristen übernimmt, ist die Sängerin im modernen Hardrock irgendwo zwischen Shinedown und Alter Bridge unterwegs.

Dieser Hintergrund ist subtil und sehr natürlich in Garden Of Earthly Delights eingeflossen, das musikalisch überaus lebendig weiterführt, was Lynch Mob und The End Machine überzeugend auf Platte bringen, andererseits aber auch mit Klangfarben und Melodiebögen spielt, die Carsons Vorgänger so wohl kaum gesponnen hätten (›Waltzing Nites‹). Ihre Stimme und ihr Timbre zwischen Lzzy Hale (Halestorm), Guernica Mancini (Thundermother) und Sandi Saraya (Saraya) verändert die Wirkung von Lynchs Musik.

Ihr ist es zu verdanken, dass man selbst dem eröffnenden ›Stranger‹ tatsächlich zuhört: Die arg plakative Speed-Riff-Nummer ist der wohl schwächste Song der Platte und zieht gegen Nummern wie ›Devastating Times‹ (der Refrain hätte auch auf dem einzigen Album von Heaven’s Basement eine dramatische Hymne abgegeben) deutlich den Kürzeren, die Lynch und Carson gleichermaßen glänzen lassen. Auch in der brillanten Produktion mit Luft und jeder Menge Dynamik, die nicht nur in der Strophe von ›Closer To Heaven‹ jede zarte Saitenberührung des Meisters deutlich hörbar macht.

(8.5/10)
TEXT: DANIEL BÖHM

ROCKS PRÄSENTIERT

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Cover von ROCKS Nr. 104 (01/2025).