Toehider

Das Spektrum menschlicher Emotionen

Bekannt wurde Mike Mills durch seine Beiträge zu Arjen Lucassens Prog-Oper-Abenteuern mit Ayreon. Toehider ist das eigene Baby des australischen Multiinstrumentalisten, dessen Frühwerke unlängst wiederveröffentlicht wurden.

TEXT: THOMAS ZIMMER |FOTO: Bird's Robe Records

Der Kult-Act Toehider gilt Prog-Fans weltweit als heißer Tipp: Kaum eine Band versteht sich auf ein derart breites musikalisches Spektrum, das mit viel Humor zu einem eigenen Stil verschmolzen wird. Und das dazu sehr oft: 2008 erscheint die Debüt-EP Toe Hider, in den folgenden 24 Monaten veröffentlicht Mike Mills sage und schreibe elf weitere EPs.

2011 schließlich folgt das erste vollwertige Langspielwerk To Hide Her, auf dem es ordentlich kreativ zur Sache geht: In einem Stück finden sich heftige Metal-Gitarren, viele progressive Elemente, an Queen geschulte Harmoniegesänge und mehrstimmige Gitarrenleads, Klangcollagen oder auch mal ein einfacher Song mit Country-Einschlag. Auf den nachfolgenden Veröffentlichungen bleibt Mike Mills seinem Vielfaltsgebot treu; 2020 erscheint das bislang letzte Album I Like It, das er abermals alleine einspielte.



»Der Impuls, unterschiedliche Genres, unterschiedliche Klänge und Stimmungen zu erforschen, kommt daher, dass ich immer Bands der sechziger und siebziger Jahre gehört habe«, erklärt der aus Melbourne stammende Musiker. »Damals schien das so üblich zu sein. Denk nur an die zwei größten Bands der Welt: die Beatles und Queen. Bei denen gibt es zwar einen roten Faden, aber sie scheuten sich wirklich nicht, weit über den Tellerrand hinauszuschauen. Das scheint heute verloren gegangen zu sein. Viele Künstler sind einfach zu besorgt, ihre Fans zu verunsichern. Sie machen sich Sorgen, ihr Album könnte sich nicht verkaufen, weil es anders als ihre vorherige Platte ist.«

Für Mike Mills ist die Vielfalt aber nicht nur künstlerisches, sondern schlicht menschliches Bedürfnis, denn »ich sehe meine Kunst, meine Musik als Ausdruck des Spektrums der menschlichen Emotionen: traurig, glücklich, amüsiert, depressiv und alles, was dazwischen ist. Ich finde, ich sollte all das ausdrücken und mich dabei eben nicht einschränken.«

Der kreative Prozess ist unabhängig vom musikalischen Genre, in dem er sich gerade bewegt. »Ich würde ja gern erzählen, dass es bei jedem Song anders ist«, lacht er. »Aber die Musik ist in der Regel zuerst da. Das kann eine Gesangsmelodie oder ein Gitarrenriff sein. Oder auch nur ein Groove. Musik zu Texten zu schreiben ist die etwas schwierigere Aufgabe, aber es passiert gelegentlich. Manchmal ist aber auch der Songtitel eine Initialzündung: Ich schnappe einen Satz auf und denke mir, das wäre ein cooler Songtitel, und dann lasse ich meine Vorstellungskraft arbeiten.«



Wenn das mitunter zu Titeln wie ›How Much For The Dragon Tooth‹ (dt.: Wie viel kostet der Drachenzahn) führt, in dem einer rasend schnellen Metal-Band wie Riot zur Zeit von Thundersteel heiter wie hymnisch nachgestellt wird, kann leicht der Verdacht aufkommen, er nehme seine Musik nicht ernst. Naheliegend, dass dann auch die Gefahr besteht, allzu schnell in die Comedy- und Persiflage-Schublade gesteckt zu werden. Dem aber sei ganz und gar nicht so, widerspricht Mills.

»Ich will wirklich nicht zu weit ins Tenacious D-Territorium vordringen. Das ist zweifelsfrei Comedy-Musik. Andererseits will ich auch nicht so ernsthaft rüberkommen, wie so viele Rock- und Metal-Bands, denen die Idee von Humor anscheinend vollkommen fremd ist. Es geht immer darum, den Mittelweg zu finden, ein bisschen albern zu sein, ohne gleich zum Comedian zu werden. Der Unterschied ist der: Ich glaube nicht, dass Leute wie Tenacious D oder Weird Al Jankovic etwas Ernsthaftes produzieren könnten, zumindest nicht unter ihrem Namen. Ich mache halt die albernen und die ernsthaften Sachen, dafür muss ich dann die Konsequenzen tragen. Die Reichweite wird etwas geringer, weil das, was ich mache, für manche Menschen schon verwirrend ist.«



Dass Mills seit 2013 größere Aufmerksamkeit zuteil wird, hat er Arjen Lucassen zu verdanken. Der entdeckt einen Clip im Internet, in dem der Australier ›Bohemian Rhapsody‹ spielt, und lädt ihn ein, an seiner Rockoper The Theory Of Everything mitzuwirken, weitere Kollaborationen folgen. So tritt er 2015 in der Bühnenfassung des Ayreon-Werks The Theatre Equation in fünf ausverkauften Konzerten in Amsterdam auf. Damit sind sein Name wie auch der seiner Band auf der Landkarte der weltweiten Prog-Community angekommen. Die Verkaufszahlen der Toehider-Musik steigen messbar.

»Arjen hat etwas Phänomenales bewirkt. Inzwischen bin ich überzeugt: Die meisten Toehider-Fans sind Ayreon-Fans, die mich durch ihn und seine Projekte entdeckt haben«, freut sich Mills, der seine Musik nun auch außerhalb seiner Heimat live auf die Bühne bringen kann, allerdings nicht unbedingt vollkommen werkgetreu.



»Das hat sich als zu schwierig erwiesen, denn Musiker bringen nun einfach mal ihre eigene Persönlichkeit und ihren Geschmack mit, also musste ich diese Idee fallenlassen. Ich muss die Live-Show als etwas vollkommen anderes betrachten als das Studioprodukt. Wenn wir live spielen, habe ich hier in Australien einen Bassisten und einen Drummer und für Europa das gleiche in Schweden. Das macht wirklich Spaß, weil ich dann auch die Interpretation meiner Musik durch andere Musiker hören kann. Das ist auch eine gute Art, die Musik, die ich geschrieben habe, neu zu interpretieren. Wenn ich ein Album schreibe, überlege ich mir schon bei ein oder zwei Songs, wie sie auf der Bühne umsetzbar sind mit den Instrumenten, die wir zur Verfügung haben. Aber meistens mache ich mir beim Aufnehmen darüber keine Gedanken. Beispielsweise, wie viele Stimmen oder Gitarren ich einsetze, was man ganz offensichtlich live so nicht umsetzen kann.«

Bei aller Vielfalt — an eine Musikrichtung hat er sich noch nicht wirklich herangetraut: Jazz. »Jazz spricht eine komplett andere Sprache. Wenn du mich fragst, würde ich sagen, ich komme von der klassischen Seite. Ich kann klassische Musik hören und bis zu einem gewissen Grad auch analysieren. Ich höre gern Jazz, aber meine Fähigkeit, das zu verstehen, ist wirklich ziemlich beschränkt. Die Akkordstruktur ist eine Fremdsprache für mich.«

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