Blind Guardian

Spiele ohne Grenzen

Auch drei Jahre nach dem Erschienen von The God Machine (2022) gefällt das aktuelle Werk von Blind Guardian als knallhartes Gitarren-Album, das den Speed Metal ihres Frühneunziger-Schaffens aufgreift, ohne die Sound-Entwicklungen der Vorjahre zu ignorieren.

TEXT: MAXIMILIAN BLOM |FOTO: Dirk Behlau

Sie pflegen einen ureigenen Stil, der Blind Guardian sukzessive zu einer der größten Formationen des europäischen Heavy Metal hat reifen lassen: Mit vielschichtigen und verwinkelten Arrangements, verspielten Folk- und orchestralen Bombastelementen inszenieren die Krefelder ihre Fantasy-Erzählungen so komplex und anspruchsvoll wie keine zweite Band. Im Pressetext zu ihrem neuesten Opus The God Machine rufen die Routiniers nicht weniger als den Beginn eines neuen Zeitalters der Bandgeschichte aus. Eine kühne Aussage für eine Gruppe, die auf ihren zwölf Studio-Alben — das Orchesterwerk Legacy Of The Dark Lands (2019) eingerechnet — immer wieder substanzielle Soundveränderungen gewagt hat. 1990 etwa, als sie auf ihrer dritten Platte Tales From The Twilight World ihre Liebe für Queen entdecken, die sie immer weiter ausbauten. Der singende, von Brian May inspirierte Gitarrensound von André Olbrich wird ebenso zu ihrem Markenzeichen wie die klassischen und folkloristischen Elemente, mit denen sie ihren melodischen Speed Metal anreicherten: eine Entscheidung, die auf dem Folgewerk Somewhere Far Beyond (1992) die Ballade ›The Bard’s Song (In The Forest)‹ ermöglichte — ein Instant-Evergreen des Metal. In den Folgejahren wurde ihr Sound dann merklich härter und ihre Kompositionen epischer und orchestraler, ab A Night At The Opera (2002) in den Arrangements zunehmend komplex.

Aber: Sie versprechen nicht zu viel. Mit frischem Songwriting-Konzept, einem neuen Fachmann für den Mix und nicht zuletzt dem ungewöhnlichen Albumcover des jungen Amerikaners Peter Mohrbacher machen Blind Guardian deutlich, dass sie in der Lage sind, sich nach beinahe vierzig Jahren im Musikgeschäft neu zu erfinden. The God Machine ist kein Album wie jedes andere von Blind Guardian.



»Nach der Produktion von Beyond The Red Mirror haben wir gemerkt, dass wir dringend eine größere Veränderung brauchen«, erinnert sich André Olbrich, der gemeinsam mit Sänger Hansi Kürsch den Großteil der Kompositionsarbeit leistet. »Stilistisch hängen bei uns ja häufig zwei Alben zusammen: Tales From The Twilight World und Somewhere Far Beyond zum Beispiel, aber eben auch At The Edge Of Time und Beyond The Red Mirror. Die gehen beide in diese epische, orchestrale Richtung, die wir damit ziemlich weit ausgereizt haben. Eine dritte Scheibe in dieser Art hätten Hansi und ich als langweilig empfunden. Deswegen haben wir dann auch das Orchester-Album endlich fertiggestellt, um den Kopf freizubekommen. Anschließend haben wir ein neues Konzept gesucht. Es war keineswegs so, dass von Anfang an klar war, wohin die Reise geht, denn wir haben in verschiedene Richtungen komponiert. Den Ausschlag gab für mich ›Violent Shadows‹: Als wir die Nummer unseren Freunden vorgespielt haben, waren sie sehr euphorisch und meinten, dass sie diese Stilistik bei uns sehr vermisst hätten.«

Die von aggressivem Riffing getragene Nummer wird zum Katalysationspunkt für The God Machine: Sowohl Olbrich als auch Kürsch haben wieder Lust auf schnellen und harten Metal und richten ihr Songwriting entsprechend aus — nicht zuletzt in der Gewissheit, damit ihre Fans überraschen zu können. Gleichzeitig entdecken sowohl Olbrich als auch sein Instrumentenkollege Marcus Siepen unabhängig voneinander den bissigen Zerrsound von Marshall-Verstärkern wieder für sich. Bei all dem steht für die Schulfreunde aber fest, auf keinen Fall eine Selbstkopie vorlegen zu wollen.



»Die Vorstellung einer Fortsetzung von Somewhere Far Beyond mag für einige Leute reizvoll sein, aber unterm Strich kann man damit als Band nur verlieren. Damals waren wir die Ersten, die solche Musik gemacht haben, da gab es keine Vergleichsmöglichkeiten. Wir mussten also Wege finden, Speed Metal in die heutige Zeit zu transportieren und innovativ zu bleiben. Unser Anspruch ist es nach wie vor, eine Band zu sein, die Maßstäbe setzt. Wir wollten wieder an die Grenzen gehen und sehen, was heute noch möglich ist. Deshalb finden sich viele Elemente auf der Platte, die wir erst in den letzten Jahren gelernt haben, durch Ausflüge in andere Genres und die experimentellen Stücke auf den letzten Scheiben.«

Dieser Spagat ist ihnen bestens gelungen: Lange klangen Blind Guardian nicht mehr so hart und vergleichsweise zugänglich wie auf The God Machine. Olbrich führt das darauf zurück, dass sie erstmals seit längerer Zeit nicht mit fertigen Nummern direkt ins Studio gegangen sind, sondern bedingt durch die Pandemie ausreichend Zeit für eine intensive Vorproduktion hatten. Symphonische Instrumente, Keyboards und Chorsätze sind weiterhin präsent, werden aber nunmehr subtiler eingesetzt. Sie verleihen etwa dem hochenergischen ›Blood Of The Elves‹ zusätzliche Intensität, ohne selbst tonangebend zu sein. Auch die Opulenz haben die Krefelder nicht gänzlich verlernt: Das dynamisch-düstere ›Architects Of Doom‹ ist dafür ein ebenso gutes Beispiel wie die ergreifende Powerballade ›Let It Be No More‹.



Neben dem feinfühligen Arrangement trägt vor allem der Mix dazu bei, dass diese Kombination so glänzend funktioniert. Erstmals seit Imaginations From The Other Side (1995) besorgte den nicht Charlie Bauerfeind, der dieses Mal nur als Produzent beteiligt war, sondern Joost van den Broek. Auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Wahl, machte sich der Keyboarder von Arjen Lucassen’s Star One zuletzt vor allem mit Breitwandproduktionen wie dem aktuellen Powerwolf-Album Call Of The Wild (2021) einen Namen.

»Gerade bei Beyond The Red Mirror gab es einige Geschmacksunterschiede zwischen Charlie und uns. Ich denke, aufgrund der hervorragenden Aufnahmen hätte der Mix rückblickend noch besser werden können. Auch wenn das Jammern auf hohem Niveau ist, war es für uns ein Grund, etwas anderes auszuprobieren. Wir haben verschiedene Studiofachleute probeweise eine Nummer mischen lassen und Joosts Vorschlag hat uns am besten gefallen. Mit ihm hatten wir schon die Demos aufgenommen, er versteht unsere musikalische Sprache. Sein wunderbar räumlicher Klang stellt unsere aktuellen Stilistik am besten dar und setzt The God Machine noch weiter von Beyond The Red Mirror ab.«


Dieser Text stammt aus ROCKS Nr. 90 (05/2022).

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