Jimi Hendrix

Electric Ladyland (Deluxe Edition)

Sony
VÖ: 1968

Ein Trip in unerforschte Dimensionen

Er war ein wahrhaft Getriebener. Zweihundert Konzerte spielte der Gitarren-Revolutionär 1967 und nahm seine ersten zwei LPs nebenbei auf. Erst dann begann Jimi Hendrix kürzerzutreten — für einen Moment. Die LP, die sein definitives künstlerisches Statement werden sollte, entstand in akribischer Kleinarbeit: Electric Ladyland wird nicht nur der Schwanengesang der Jimi Hendrix Experience, sondern auch das Sinnbild einer radikalen Neuerfindung der Rockmusik, ein schillerndes Gitarren-Monument, das leichthändig Heavy-Rock, harten Funk, elektronische Spielereien, psychedelische Momente und ursprünglichen Delta-Blues vereint.

Seine Band zerbricht an der Entstehung, während derer Hendrix die Studiotechnik als wichtigsten Partner für sich entdeckt: In ›1983… (A Merman I Should Turn To Be)‹ kreieren Möwengesang, Feedback-Lärm und rückwärts gespielte Gitarren eine träumerische Unterwasseratmosphäre, eine musikalische Suite, mit der das von Bassist Noel Redding verfasste ›Little Miss Strange‹ nicht mithalten kann. Es ist der einzige Schwachpunk dieses epochalen Doppelalbums, das neben dem hart pumpenden ›Crosstown Traffic‹, ›Voodoo Child (Slight Return)‹ auch den irrlichternden Mitternachts-Blues ›Voodoo Chile‹ enthält, ein spontaner Jam zwischen Hendrix, Bassist Jack Casady und Organist Steve Winwood. Und selbstverständlich das Bob Dylan-Cover ›All Along The Watchtower‹, eine der aufsehenerregendsten Fremd-Interpretationen überhaupt. Der Meister selbst indes war nach der Veröffentlichung alles andere als zufrieden. Er haderte mit dem flachen, eindimensionalen Mix und war erzürnt über die unbekleideten und wenig sinnlich in Szene gesetzten Damen der Plattenhülle, ein Motiv, das er strikt abgelehnt hatte.

Viel Arbeit für Produzent Eddie Kramer, der das Meisterwerk zum 50-jährigen Bestehen überarbeitet und um zwei CDs aufgestockt hat. Dabei gewähren vor allem die frühen Demoaufnahmen, die in seinem New Yorker Domizil, dem Drake Hotel, entstanden, tiefe Einblicke in die Arbeitsweise des Künstlers: Hendrix flüstert die Gesangslinien beinahe, spielt die Gitarre leise, mitunter beinahe zärtlich, mutmaßlich, um die Nachbarn nicht zu stören, und lässt sich während ›Gypsy Eyes‹ vom Klingeln des Telefons für einen Moment aus dem Konzept bringen. Im Gegensatz dazu zeigt der offiziell bislang unveröffentlichte Live-Mitschnitt aus der Hollywood Bowl in Los Angeles, der vier Wochen vor Veröffentlichung des Albums am 14. September 1968 entstand und nur ein einziges aktuelles Stück enthält, das begnadete Experience-Trio in explosiver Spiellaune.

Die vier in diesem Set enthaltenen Scheiben sind in ein hübsches Buch mit 48 Seiten eingelegt, das selten gesehene Fotos und handgeschriebene Texte enthält, darunter die explizite Order, sich an das vorgesehene Cover-Foto der zukünftigen Linda McCartney aus dem Central Park zu halten. Im audiovisuellen Teil ist die TV-Doku At Last…The Beginning enthalten sowie ein sehr guter von Kramer angefertigter Surround-Mix, welcher die Klangfarben in Hendrix’ Spiel deutlicher hervorhebt und nebenbei auch eine ausgewogenere Balance zwischen der Rhythmusgruppe und den elektronischen Klangtupfern herstellt. Die Soundqualität des hier öffentlich gemachten Bonusmaterials ist allerdings mäßig. Auch über die Auswahl lässt sich erbittert streiten: Es gäbe so viel, was den Mehrwert beträchtlich hätte steigern können.

(10/10)
TEXT: DANIEL BÖHM

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