Johnny Winter

Texas unter Strom

Die Musikindustrie sah in ihm den Gegenentwurf zu Jimi Hendrix — und wollte den schlaksigen Albino mit dem wallenden Haar um jeden Preis zum Rock-Superstar aufblasen. Johnny Winter wollte nur eins: »Guten Blues spielen«.

TEXT: DANIEL BÖHM |FOTO: Albumcover

Begonnen hat die Karriere des schlaksigen Albino mit dem wallenden Haar bereits in den späten sechziger Jahren: Second Winter (1969) erschien als drittes Album von Johnny Winter gute zwei Monate nach seinem Auftritt in Woodstock, bei dem er seinen virtuos gespielten Trio-Bluesrock auf Psychedelic-Terrain umwuchtete. Wobei ihn die zumindest latente Cream- und Hendrix-Verbundenheit dieser feurigen Platte nie davon abhielt, mit seiner wahren Texas-Blues-Stimme zu sprechen, die in Bob Dylans ›Highway 61 Revisited‹ und vor allem in ›I Love Everybody‹ die wohl schönsten, aufregendsten Slide-Abfahrten der Geschichte hervorbrachte, die ausgezeichnet als Stilstudie dieses außergewöhnlichen Gitarristen taugen.



John Dawson Winter III wurde am 23. Februar 1944 im texanischen Beaumont geboren, wo knapp drei Jahre später auch sein Bruder Edgar Holland Winter zur Welt kam — mit derselben Stoffwechselbesonderheit, die den beiden eine schwere Kindheit als obskure Außenseiter bescherte. Musik war immer um sie herum: Die Winters waren eine Musikerfamilie und schnell beherrschten auch ihre Zöglinge verschiedenste Instrumente und erprobten sich in Bands. Als Johnny & The Jammers gewannen sie 1959 einen Talentwettbewerb und nahmen eine Single auf (›School Day Blues‹). Nach unauffälligen Platten mit wechselnden Formationen schulte sich Winter intensiv im Blues, der aus ihm einen Saitenkünstler mit atemberaubender Spieltechnik formte.

Johnny Winter fiel aus allen Wolken, als ihm plötzlich eine frisch gepresste Platte in die Hände fiel, die seinen Namen trug: Progressive Blues Experiment (1968) enthält Aufnahmen, die er mit Tommy Shannon am Bass und Drummer John Turner ohne Publikum in einem Club in Austin live eingespielt hatte und die für eine Veröffentlichung in Kleinstauflage vorgesehen war und ohne sein Wissen plötzlich professionell vertrieben wurde. Immerhin: Das Album brachte dem Gitarristen erst einen Manager und dann einen Vertrag mit einer bedeutenden Plattenfirma ein, die ihrem neugewonnenen Künstler mit 300.000 Dollar den höchsten Vorschuss über den Verhandlungstisch schob, der je an einen Blues-Musiker ausgezahlt wurde.



Als Johnny Winter erschien, halluzinierte um Winter herum die Psychedelic-Welt fröhlich vor sich her — ein konservatives Blues- und Bluesrock-Album wie dessen Erstling für Columbia wirkte 1969 genauso exotisch wie sein Äußeres.
Second Winter (1969) sogar noch mehr. Die Doppel-LP mit den drei bespielten Seiten (die vierte blieb komplett unbespielt) beschallte Neuland, für das der Gitarrist seinen Bruder Edgar mit ins Studio brachte. Das Eröffnungsstück ›Memory Pain‹ liebäugelt mit dem psychedelischen Bluesrock von Cream, richtig bunt wird es im schwebenden ›I’m Not Sure‹, in dem nicht nur der Bass tänzelt: Edgar Winter steuert ein rhythmisch hämmerndes Cembalo. Brillant das lässig-flüssige Gitarren-Solo; traumhaft die charakteristisch schneidenden, extralangen Slide-Läufe in ›I Love Everybody‹ oder ›Highway 61 Revisited‹ von Bob Dylan.

Nach drei LPs in derselben Besetzung zerbrach schließlich sein altes Power-Trio. Das Debüt von Winters neuer Band geriet völlig anders, als es seine Anhänger wohl erwartet hatten: Auf dem Blues-Fundament der frühen Siebziger entstanden mit Rick Derringer als zweitem Gitarristen und Ideengeber und der Rhythmusgruppe der McCoys griffige, virtuose Heavy- und frühe Hardrock-Nummern, die Winter weit in das Jahrzehnt hineintrugen. Die Riff-Hymne ›Rock And Roll, Hoochie Koo‹ machte Verfasser Derringer wie auch Winter gleichermaßen unsterblich, aber auch ›Ain’t That A Kindness‹ als packender Rocker mit Südstaaten-Flair aus der Feder von Mark „Moogy“ Klingman (Utopia) oder ›Prodigal Son‹ und ›Nothing Left‹ mit plötzlich vorüberziehendem Hendrix-Nebel sind Perlen des Jahrzehnts.



Das Gezerre der Musikindustrie, die in Johnny Winter den weißen Gegenentwurf zu Jimi Hendrix sah und ihn um jeden Preis zum Superstar aufzublasen gedachte, ging nicht spurlos an dem Saitenkünstler mit der zur Visitenkarte gewordenen Gibson Firebird-Gitarre vorbei. Bevor Still Alive And Well erschien, hatte sich Winter ein ganzes Jahr lang aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, um seine Heroinsucht in den Griff zu bekommen. 1973 war er wie ausgewechselt: Die erneute Kooperation mit Rick Derringer gipfelte in einer schnittigen LP, die Winter in der Wahrnehmung seiner Hardrock-Klientel definieren sollte. ›Rock Me Baby‹ ist ein ebensolches Monument des bluesigen Classic-Rock wie ›Whole Lotta Love‹ von Led Zep. ›All Tore Down‹ drückt mit Mountain-Riff, ›Cheap Tequila‹ wärmt entspannt melodisch in untergehender Southern-Sonne.


 

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