Saigon Kick

Traumstart ohne Schranken

So wie Saigon Kick klang zu Beginn der Neunziger niemand: Die Band aus Florida brachte in ihrem sonderbaren Sound wuchtig riffenden US-Hardrock und Elemente des Metal, Punk, Power-Pop und Alternative zum Funkeln — durchflutet von sonnigen Harmoniegesängen, die hörbar von den Beatles geschult wurden. Heute vor dreißig Jahren erschien ihr Debüt.

TEXT: DANIEL BÖHM

Ihren Plattenvertrag mit Atlantic verdanken die von Sänger Matt Kramer und Gitarrist Jason Bieler ins Leben gerufenen Saigon Kick ihrem aufputschenden Bühnengebaren. Und ihre Shows sind es letztlich auch, die später Sound-Papst Michael Wagener davon überzeugen, diese Gruppe live aufnehmen zu müssen, um ihre Haltung, ihr Wesen und ihre sprühende Energie auch nur halbwegs adäquat im Studio einfangen zu können.

Von der Zusammenarbeit mit dem durch Bassist Tom Defile und Schlagzeuger Phil Varone komplettierten Quartett schwärmt der Produzent noch heute. »Die Vier waren trotz der knappen Vorbereitungszeit tiptop aufeinander eingestimmt und haben alle Instrumente und selbst den Gesang zur gleichen Zeit eingespielt. Später mussten bloß ein paar Kleinigkeiten ausgebessert und einige Harmonien hinzugefügt werden. Alles lief extrem professionell, das war sehr beeindruckend.«



In nur elf Tagen gelingt dem gebürtigen Wuppertaler eine seiner imposantesten Album-Produktionen überhaupt, die eine eingeschworene Band abbildet, die Jane’s Addiction und Warrior Soul liebt, sich in kecken Gesangsharmonien auf die Beatles und Cheap Trick beruft und es in der Gitarrenarbeit ohne Not mit dem breitbeinigen Gestus und der ungebremsten Intensität von Skid Row aufnehmen kann — ein Jahr vor Slave To The Grind, das ohne Wageners mit Saigon Kick gesammelten Erfahrungen womöglich ganz anders geklungen hätte.

»Vor allem Jane’s Addiction waren damals ein großes Vorbild für mich«, erzählt Bieler. »Die ließen sich partout nicht einordnen. Optisch wirkten sie wie eine moderne Glam-Band, der man am besten nicht im Dunkeln über den Weg laufen sollte. Aber musikalisch hatten die richtig viel drauf! Und vor allem hatten sie kein blödes Image wie so viele andere Hardrock-Bands jener Zeit. So etwas in der Art schwebte mir immer auch für Saigon Kick auch vor.«

Schamanenhaft und sperrig wirkt ›New World‹ als Intro-Song mit Sitar-Klängen und Trommelfeuer von Phil Varone, ehe die Paradiesvögel im jubilierenden ›What You Say‹ ihre betörenden Melodie- und Chorqualitäten zur Schau stellen. Das mit klackerndem Bass und wuchtigen Heavy-Riff-Salven ausgestattete ›Suzy‹ nimmt auf ähnliche Weise gefangen.



Wer bislang noch keine Nähe zu Skid Row heraushören konnte, wird es in Bielers explodierendem Gitarrensolo und allerspätestens bei ›Ugly‹ tun: Ein Song mit rollendem Riff, der mit dem rabiaten ›What Do You Do‹ und ›Month Of Sundays‹ zu den härtesten Liedern der Platte zählt, die allesamt mit lauten Gang-Vocals ausgestattet sind.

›Love Of God‹ dagegen umgarnt mit einer lebensfrohen Leichtigkeit, die einen erst nach und nach bemerken lässt, wie geschickt hier eine die Welt umarmende Breitwand-Pop-Hymne mit brettharten Gitarren getarnt wurde. Der Mega-Refrain von ›Colors‹ ist für derartige Versteckspielchen um einiges zu groß. Und wem das tatsächlich alles noch zu normal klingen sollte, darf sich auf die vokale Spaß-Nummer ›My Life‹ freuen, die erst mit einem kilometerbreiten Power-Pop-Refrain und dann mit einem auf Kämmen (!) geblasenen Lead punktet.

Den unwesentlich schwächeren Nachfolger nimmt die Band in Eigenverantwortung in Schweden auf: Zum Teil sind die Songs darauf etwas härter (›Hostile Youth‹, ›Freedom‹, ›All Right‹), stilistisch trennt das 1992 erschienene The Lizard aber nicht viel von seinem live entstandenen Vorgänger. Handwerklich schon: Die gesamte Produktion wirkt dichter und stark ausgearbeitet, vor allem fehlt der Platte das Leichte und Unbekümmerte, das den Erstling so heraushob.



Das Zerwürfnis zwischen Kramer und Bieler ist auf Water (1993) dokumentiert, dem ersten von drei noch folgenden Saigon Kick-Alben, auf denen sich der Gitarrist als alleiniger Sänger auslebte. Verwischt wurden die Charakterzüge seiner Band dadurch nicht, auch wenn Water weniger muskulös und riffgetrieben anmutet: Eng verschlungen mit dem tieferen Register Kramers war Bielers zuweilen recht penetrante Stimme schon auf den Vorgängern stark präsent.

In abgebremster Variante sind die bandtypischen Wucht-Gitarren auch in ›One Step Closer‹ und ›Torture‹ untergekommen; der butterweiche Chorrefrain von ›Fields Of Rape‹ steht ganz in der Tradition von ›Colors‹ und ›Love Is On The Way‹, dem Hitparadenstürmer von The Lizard. Den Tenor aber bestimmt Bielers Gestaltungsdrang, der im Studio auch mal mit Sequenzern und Keyboards arbeitet oder mit funkig-klimpernden Gitarren hantiert, was im gefühligen ›I Love You‹ und in ›On And On‹ gipfelt: einer heiteren Fast-Disco-Nummer, die gut zu den zeitgenössischen Red Hot Chili Peppers passen würde.

Seine künstlerischen Ambitionen zeigen sich vor allem im hinteren Teil der Platte in ›Sentimental Girl‹ und der orchestrierten Nummer ›When You Were Mine‹ sowie ihrer ›Reprise‹, die ihre Reminiszenzen an Abbey Road, Queen und Cheap Trick schwer verleugnen können. Auch der plötzlich einsetzende Gospel-Chor im tendenziell ein wenig an U2s Zooropa erinnernden Titelstück gehört in diese Kategorie; das schmucke Bowie-Cover ›Space Oddity‹ sowieso, das Bieler selbstbewusst an die zweite Position seiner Platte pflanzte.

Bis zu ihrer Auflösung 2000 erschienen noch ein sehr gutes (Devil In The Details, 1995) und ein zu vernachlässigendes Album (Bastards, 1999) in wechselnden Besetzungen. Für einige Konzerte findet sich die Band 2012 noch einmal zusammen. Weitere Auftritte oder ein neues Studio-Album schließt heute Bieler kategorisch aus, der kürzlich in Songs For The Apocalypse ein zweites Solo-Album veröffentlicht hat — unter dem klangvollen Bandnamen Jason Bieler And The Baron Von Bielski Orchestra.

»Es war schon toll zu erleben, dass wir uns zusammen in einem Raum aufhalten konnten, ohne uns gegenseitig umzubringen, und es war schön, nochmal in der Vergangenheit zu schwelgen. Aber ich habe für mich entschieden, es endgültig dabei zu belassen.«

 

Einen ausführlichen Blick auf Saigon Kick und das aktuelle Schaffen von Jason Bieler gibt es in ROCKS Nr. 80 (01/2021).


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