Saxon

Mit Gift und Melodie

Saxon stehen wieder unter Dampf: Carpe Diem ist als ruppiges Heavy Metal-Album der eigenen Band-Tradition verpflichtet — und zeigt die geschichtsschweren Briten melodisch zwingend wie lange nicht.

TEXT: PETER ENGELKING |FOTO: Steph Byford

Mittagszeit im nordenglischen York. Biff Byford ist zu Fuß am Stadtrand unterwegs. Der Sänger muss Luft schnappen, den Kopf freibekommen. Er hat bereits einige Stunden im Studio zugebracht und am zweiten Teil von Inspirations gearbeitet, der Fortsetzung von Saxons letztjähriger Cover-Platte und Helden-Huldigung. ›Man On The Silver Mountain‹ stand auf seiner morgendlichen To-do-Liste, erzählt Byford. Mit dem Ergebnis der Einspielung ist er vollauf zufrieden.

»Wir drehen diese Songs, die uns in jungen Jahren beeinflusst haben, ja nicht auf links, um etwas völlig Neues daraus zu machen. Wie schon beim ersten Inspirations-Teil bleiben wir recht nah an den Originalen und spielen sie als Saxon — das hat mit dieser Rainbow-Nummer ziemlich geklappt. Wir haben reichlich Songs in petto. Aber nur die zehn, zwölf besten davon werden auf der Fortführung landen, die im Laufe des Jahres erscheinen soll.«



Das Arbeitspensum, das der charismatische Frontmann derzeit an den Tag legt, ist immens. Es weckt Erinnerungen an die Anfänge seiner Sängerlaufbahn. Inmitten der noch jungen New Wave of British Heavy Metal bestellten Saxon mit ihrem selbstbetitelten Debüt (1979), Wheels Of Steel (1980) und Strong Arm Of The Law (1980) in gerade mal 18 Monaten ein fruchtbares Feld, auf dem eine ansehnliche Karriere gedeihen sollte.

Mittlerweile ist Peter „Biff“ Byford 71 und Carpe Diem nach seinem Solo-Debüt School Of Hard Knocks (2020), dem Cover-Album Inspirations (2021) und der gemeinsam mit seinem Sohn Seb verwirklichten Heavy Water-Platte Red Brick City (2021) die vierte Scheibe binnen zweier Jahre, auf der er zu hören ist. Und Carpe Diem sticht heraus: Es ist das stärkste Saxon-Album seit langem, die Verbundenheit der Band zur eigenen Vergangenheit geistert durch jeden einzelnen Song.

»Wir haben unsere musikalische Ausrichtung mal wieder überdacht und an ein paar Stellschrauben gedreht«, schmunzelt der Musiker, der sich nach einem Herzinfarkt im Herbst 2019 einer dreifachen Bypass-Operation unterziehen musste. »Ich wollte die kantige Härte, die Battering Ram und Thunderbolt beherrscht, ebenso reduzieren wie die progressive Note, durch die einige Stücke zuletzt recht komplex geraten waren. Carpe Diem sollte direkter klingen, eingängiger und doch voll auf die Zwölf. Dass einige Passagen an unser früheres Schaffen andocken, ist kein Zufall.«



Um dieses Ziel zu erreichen, gewährt die Band ihren jüngsten Kompositionen ausreichend Zeit zum Reifen. Schon als Byford 2019 mit den Aufnahmen von School Of Hard Knocks beschäftigt ist, entstehen erste Skizzen für Carpe Diem, deren Konturen nach und nach an Schärfe gewinnen. »Nach unserem Südamerika-Abstecher vor zweieinhalb Jahren haben wir uns eine kurze Verschnaufpause gegönnt und dann zügig mit dem Schreiben neuer Songs begonnen«, erinnert sich der Bandgründer.

Wie üblich werden zunächst untereinander Einfälle hin- und hergeschickt, ehe sich die fünf Musiker zum gemeinsamen Arrangieren der Stücke treffen. »Glücklicherweise hat jeder in der Band mein Anliegen verstanden, die Verbindung zu unseren Alben aus den achtziger Jahren wieder deutlicher herauszustellen. Zielsetzung war es, den aggressiven Grundton beizubehalten und gleichzeitig positiver zu klingen — das ist uns gelungen. Die Riffs und Harmonien auf Carpe Diem sind so giftig wie melodisch.«



Diesen goldene Mittelweg zwischen kräftig zupackendem Heavy Metal und melodischer Erhabenheit haben Byford, die Gitarristen Paul Quinn und Doug Scarratt, Bassist Nibbs Carter und Schlagzeuger Nigel Glockler schon lange nicht mehr mit solch traumwandlerischer Sicherheit beschritten. Während sich das als letztes Stück für Carpe Diem entstandene ›Remember The Fallen‹ hervorragend auf Solid Ball Of Rock (1990) gemacht hätte und ›Living On The Limit‹ das Spätwerk Motörheads mit Saxons eigenen Hochgeschwindigkeits-Preziosen wie ›Motorcycle Man‹ und ›20.000 Ft.‹ kreuzt, sucht das Quintett mit ›The Pilgrimage‹ eine direkte Verbindung zu einem noch größeren Klassiker seiner Geschichte.

»Das Stück ist ganz gezielt an ›Crusader‹ angelehnt, da muss man nicht drum herumreden«, erklärt Byford. »Es hat einen ähnlichen, kontinuierlich anschwellenden Aufbau, der sich wunderbar mit der behandelten Thematik ergänzt. Etwas in dieser epischen Art hatten wir seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr komponiert, darum sehen wir auch nichts Verwerfliches in dieser unschwer erkennbaren Parallele. Es stand sogar zur Debatte, die Platte mit ›The Pilgrimage‹ zu eröffnen, aber das wäre dann doch etwas zu viel des Gleichschritts mit Crusader gewesen.«



Die Ansicht, dass Stücke wie diese ebenso dafür prädestiniert sind, Saxon-Konzerte zu eröffnen wie ›Rockin’ Again‹ vom oftmals unterschätzten Album Innocence Is No Excuse (1985), bei dem man quasi vorm geistigen Auge den Bühnenvorhang fallen sieht, sobald die Musik richtig Fahrt aufnimmt, teilt der Sänger nicht. »›Crusader‹ haben wir tatsächlich mal für eine Weile als Eröffnungsstück bei Konzerten ausprobiert, aber damit kam ich absolut nicht klar«, lacht Byford. »Meinem Empfinden nach müssen direkt zum Einstieg die Fetzen fliegen. Ein funkensprühender Feger gibt mir mehr, wenn ich auf die Bühne komme, als eine sich behutsam aufbauende Nummer. In dieser Situation brauche ich den ansatzlosen Kick, das Adrenalin muss strömen!«

Dieses Hormon schoss sicherlich auch den jungen Männern durch die Körper, die Biff Byford in ›Dambusters‹ besingt: britische Soldaten, die während des Zweiten Weltkriegs im Mai 1943 ausgesandt wurden, um deutsche Talsperren zu bombardieren und dadurch der Zivilbevölkerung ebensolchen Schaden beizufügen wie der Rüstungsindustrie. »Das war ein nicht sonderlich erfolgreicher Einsatz, bei dem knapp die Hälfte der Piloten ums Leben kam, und der nicht oft thematisiert wird«, weiß der Frontmann. »Deshalb fand ich es umso spannender, darüber einen Text zu verfassen.«

Ähnlich wie Bruce Dickinson von Iron Maiden findet auch Byford Gefallen daran, historische Themen aufzugreifen — kriegerische wie auch solche über technische Errungenschaften. »In meiner Jugend gab es bei uns ein Magazin namens Boyzone, das sich eingehend mit derlei Inhalten beschäftigte. Das war ein gefundenes Fressen für mich. Ich hab jede einzelne Ausgabe davon verschlungen und so Interessengebiete entdeckt, die mir bis heute Textinspirationen liefern.«



Beispielsweise auch für ›Age Of Steam‹, in dem Byford erneut den Anfängen der Eisenbahn huldigt und damit einen Bogen zu ›Princess Of The Night‹ von der vierzig Jahre alten LP Denim And Leather schlägt. Als Ewiggestriger will sich der Sänger deshalb aber nicht verstanden wissen — gleichermaßen verfolgt er mit wachen Augen aktuelle Geschehnisse und Entwicklungen. Zu den Weltraumflügen von Richard Branson, Jeff Bezos und Konsorten pflegt er allerdings ein ambivalentes Verhältnis.

»Wenn stinkreiche Typen Millionen zum Spaß raushauen, nur um für ein paar Minuten schwerelos durch die Luft zu eiern, muss man sich echt am Kopf kratzen. Da geht es um unglaubliche Geldbeträge, die sinnvoller hätten eingesetzt werden können. Andererseits waren es schon immer derartige Wagnisse, die der Menschheit neue Wege geebnet haben. Und ohne den nötigen Schotter funktioniert das einfach nicht. Als einige Kerle in grauer Vorzeit damit angefangen haben, Schienen verlegen zu lassen, auf denen sie mit Dampf betriebenen Stahlkolossen fahren wollten, haben das auch viele Menschen misstrauisch beäugt. Mal sehen, ob wir demnächst auch einen Song über diese neumodische Raketen-Armada verfassen werden…«


Dieser Text stammt aus ROCKS Nr. 87 (02/2022).

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