The Scream

Let It Scream

Rock Candy
VÖ: 2018

Die Wucht der Schlichtheit

Für die meisten wird John Corabi wohl bis in alle Ewigkeit der kurzzeitige Sänger von Mötley Crüe bleiben (Mötley Crüe, 1994), der nach langem Existenzkampf schließlich doch noch sein Glück als Frontmann der Dead Daisies fand. Dass er bereits in den frühen Neunzigern ein Ausrufezeichen mit The Scream setzte, verkommt allzu oft zur geringgeschätzten Fußnote — einer großartigen Band, in der Musiker der just auseinandergebrochenen US-Metaller Racer X (Gitarrist Bruce Bouillet und Bassist John Alderete; bis zur Jobofferte von Judas Priest war auch Schlagzeuger Scott Travis involviert) und Corabi als vormaliger Sänger der hoffnungsvoll gestarteten Angora zusammenfanden.

Mit Produzentenlegende Eddie Kramer spielten sie 1991 Let It Scream ein: ein ausgezeichnetes Debüt, auf dem die Band genüsslich Led Zeppelin mit den frühen Aerosmith kollidieren ließ und dem Ganzen eine gehörige Sleaze-Dusche verpasste. Die Soundarchitektur der Platte ist schlicht und dabei bleischwer in ihrer Wirkung — gleich der Einstieg ›Outlaw‹ ist ein Paradebeispiel dafür, wieviel Wucht von nur einer Gitarre, Bass und Schlagzeug ausgehen kann; im famosen Solo verbergen sich gleich etliche Signature-Licks, die Bouillet schon bei Racer X einsetzte (man vergleiche mit ›Bruce’s Solo‹ auf Extreme Volume Live). In ›Man In The Moon‹ gelingt die Aero-Zeppelin-Verbindung besonders eindrücklich, ›Father, Mother, Son‹ ist bis heute eine der am wenigsten affektierten und schönsten Hardrock-Balladen überhaupt geblieben.

Das wenig feinfühlige Remaster dieser Neuedition ließe sich mit demselben religiösen Eifer diskutieren wie bei den meisten Veröffentlichungen von Rock Candy, ist aber nicht halb so destruktiv wie kürzlich etwa bei den Neuausgaben der ersten zwei Alben von Saigon Kick. Als Bonus-Tracks wurden ›Young And Dumb‹ vom Soundtrack der Filmkomödie Steinzeit Junior angefügt sowie sechs Songs (das Aerosmith-Cover ›Lick And A Promise‹ inklusive) ihres Auftritts 1992 im Marquee Club von Los Angeles — nur wenige Stunden nach dem folgeschweren Anruf von Nikki Sixx und Tommy Lee bei John Corabi, die ihn vom gerade erfolgten Rauswurf ihres Sängers Vince Neil berichteten und zu einer gemeinsamen Probe baten. Wer die ganze Geschichte dieser Platte nachlesen möchte, kann dies in ROCKS Nr. 68 (01/2019) tun.

(8/10)
TEXT: DANIEL BÖHM

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