Extreme

Eine verrückte Reise durch die Zeit

Dreizehn Jahre nach dem Handtuchwurf haben Extreme genug von Solo-Projekten und gelegentlichem Musizieren: Saudades De Rock macht das Comeback der Edel-Hardrocker komplett.

TEXT: SEBASTIAN KUHLMANN |FOTO: Enzo Mazzeo

Vier Albumveröffentlichungen, darunter lediglich ein Kassenschlager, gingen bislang auf das Konto der Band aus Boston. Zu wenig für das aktuelle Bohai um diese Reunion, könnte man spötteln.

»Reunion ist ein verdammt böses Wort«, seufzt Monster-Gitarrist Nuno Bettencourt. »Das klingt mir zu sehr nach einer kalkulierten Marketingentscheidung. Diese Band wird für jeden von uns bis in alle Ewigkeit etwas ganz Besonderes bleiben. Nach all diesen Meinungsverschiedenheiten über den weiteren Kurs von Extreme, die den Split unausweichlich gemacht haben, stand für uns fest, dass wir nur dann wieder zusammenkommen würden, wenn wir in kreativer Hinsicht auch etwas mitzuteilen hätten — als Band. Das ist nun definitiv der Fall.«

Kenner winken bei dem Gemurre eh sofort ab: Immerhin gehörten Extreme Anfang der Neunziger zur letzten kleinen Schar quicklebendiger US-Hardrockgruppen, die einen unverkennbar eigenen Sound auf den Weg brachten und damit Erfolge feierten. Ihr selbstbetiteltes Debüt von 1989 blieb trotz eines Beitrags zum Soundtrack von Bill & Teds verrückte Reise durch die Zeit (›Play With Me‹) weitestgehend ungehört.



Erst auf dem Nachfolgealbum schafften es Extreme, ihre songschreiberischen Fähigkeiten dem enormen handwerklichen Können anzugleichen. Pornograffitti (1990), dessen verhunzte Titelschreibweise ein “t” zu viel führt, knackte mit der unsterblichen Hit-Ballade ›More Than Words‹ zwar den Massenmarkt und hielt das Album Ewigkeiten in den Charts. Für Furore sorgte die Gruppe aber vor allem wegen ihres frischen Sounds, der Kritiker von einer jugendlich-vergroovten Interpretation alter Van Halen schwärmen ließ. Lange war traditioneller Hardrock nicht mehr so keck, abwechslungsreich und lebendig gewesen; selten klang diese Musik so verdammt funky — und wurde dabei so virtuos gespielt wie von Extreme.

Neben Sänger Gary Cherone ist Nuno Bettencourt wichtigster Formgeber der Gruppe. Bis heute ist sein unvergleichlich rhythmisches und hochvirtuoses Spiel immer im Dienst der Songs und der Grooves geblieben; mit selbstherrlichen Auftritten im Solo-Schaufenster hatte der gebürtige Portugiese nie etwas am Hut: Das Instrumental-Intro zu ›He-Man Woman Hater‹, das Bettencourt wie von selbst zum offiziellen Gitarrengott aufsteigen ließ, spielte im Studio kurioserweise Frank Zappas Sprössling Dweezil ein.



Der ausgelassenen Funk-Rock-Party schickte das anspruchsvolle Quartett in Three Sides To Every Story (1992) einen wahren Brocken von Album hinterher, auf dem Extreme ihrer Faszination für Bombast, komplexe Instrumentierungen und vor allem für Queen freien Lauf ließen. Beim legendären Freddie-Mercury-Tribute-Konzert in der Londoner Wembley Arena wurden sie von Brian May als die Gruppe auf die Bühne gerufen, “die mehr jede andere Band auf diesem Planeten versteht, worum es Queen und Freddie musikalisch ging”.

»Das war das größte und schönste Kompliment, das wir jemals bekommen haben. Als wir Brians Ansage hinter der Bühne mithörten, waren wir wie vom Blitz getroffen und völlig baff. Der Anlass dieses Konzerts war ja schon bewegend genug, und wir waren ohnehin total nervös. Wir wollten nur noch im Boden versinken…«

Genau das wünschte sich so mancher überforderte Fan, als drei Jahre später Waiting For The Punchline erschien. Wie weggefegt waren der Bombast und die vielschichtige Komplexität des Vorgängers; Extreme nutzten das Studio lediglich zum Aufnehmen und nicht zum Tricksen. Das Resultat dokumentiert ungeschönt die Essenz ihres Sounds: Rauh, knochentrocken und unglaublich fett geriet das Schmuckstück, das als einziges Extreme-Album heute noch genauso frisch, prall und aktuell klingt wie am Tag seiner Veröffentlichung. Schlauberger meinten jedoch, ein Grunge-Werk entdeckt zu haben.


»Blödsinn, oder?«, schüttelt auch Bettencourt den Kopf. »Nach all den aufgeblasenen Mega-Produktionen der Neunziger wollten wir einen echten Wohnzimmersound und uns als Band so pur und authentisch wie möglich präsentieren: keine Effekte, kein Orchester, keine Samples, keine fetten Backing-Chöre und auch keine Türme aus übereinandergeschichteten Gitarrenspuren. Nur Gesang, Gitarre, Bass und Schlagzeug.«

Genau dieser Philosophie folgt auch die aktuelle Comeback-Scheibe, die beinahe so klingt, als lägen Waiting For The Punchline und Saudades De Rock (saudade: Portugiesisch für “Sehnsucht”) nicht dreizehn, sondern bestenfalls zwei Jahre auseinander. Gibt es neben dem erneuten Wechsel am Schlagzeug denn überhaupt einen markanten Unterschied zwischen den alten Extreme und der Gruppe, die sich auf diesem neuen Album so typisch, selbstverständlich und vor allem so überzeugend präsentiert?

»Sicher: Damals hatten wir noch mehr Haare auf dem Kopf. Im Ernst: Jeder von uns hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt, sein Leben gelebt und neue Erfahrungen gesammelt. Auch mit Musik. Diese Dinge fließen zwangsläufig ins Songwriting mit ein, als neue Nuancen. Es ist doch so: Musikalisch bist du das, was du isst. Und wir alle haben uns in den letzten zehn Jahren völlig unterschiedliches Futter reingetan…«


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