Eigentlich hätte der große Wacken-Auftritt vor zehn Jahren den Startschuss zur Savatage-Rückkehr geben sollen, aber nach dem Tod von Produzent und Songwriter Paul O'Neill sowie gesundheitlichen Rückschlägen bei Bandkopf Jon Oliva war der Schwung des Konzerts schnell verpufft. Der von seinen Anhängern liebevoll „Mountain King“ genannte Sänger und Keyboarder leidet nicht nur an Multipler Sklerose und Morbus Menière, einer Erkrankung des Innenohrs, die Schwindel, Hörverlust und Phantomgeräusche hervorrufen kann, sondern hat sich bei einem Sturz auch einen Rückenwirbel verletzt, was den Bewegungsradius des 65-Jährigen stark einschränkt.
»Ich habe mir den siebten Wirbel an drei Stellen gebrochen, samt ein paar Haarrissen weiter unten — man wird mich also gerade nicht auf der Tanzfläche finden«, erklärt ein spürbar frustrierter Oliva, den vor allem die Beeinträchtigung seiner Gesangsfähigkeit nervt. »Wenn ich zu einem meiner typischen Schreie ansetze, fühlt es sich an, als ob jemand mit einem Schraubenzieher auf mich einstechen würde. Beim Versuch, ›Hall Of The Mountain King‹ zu singen, läge ich schnell auf dem Boden, weinend wie ein Baby. So kann ich nicht auf eine Bühne treten, nur fünfzig Prozent geben und den Rest irgendwie hinschummeln. Bei Savatage geht nur alles oder nichts. Und so sehr es mich auch frustriert: Mein Ego ist nicht so groß, dass ich die gesamte Planung wieder einkassiere, nur weil ich selbst nicht dabei sein kann. Die Tour ist längst gebucht, die Fans haben über zwanzig Jahre darauf gewartet, da will ich sie nicht enttäuschen.«
Große Hoffnungen, dass Jon Oliva in den kommenden Monaten doch auf die Beine kommen und bei den anstehenden Konzerten für kurze Gastauftritte auf die Bühne treten kann, sollte sich niemand machen. »Im Grunde genommen sitze ich auf meinem Arsch und warte, bis diese Brüche endlich so gut verheilt sind, dass ich mit einer Therapie beginnen kann. Es gab Ärzte, die meinen Rücken mit Metall verschrauben wollten. Davon haben mir aber Betroffene, die so etwas durchgemacht haben, vehement abgeraten. Weil ich diese Operation abgelehnt habe, muss ich nun eben mehr Geduld aufbringen. Ich kann niemandem empfehlen, sich die Wirbelsäule zu brechen — das war die schmerzhafteste Erfahrung meines Lebens!«
Wichtig ist es Jon Oliva, seine akribische Beteiligung hinter den Kulissen zu betonen. Keine Probe werde ohne ihn ablaufen, auch die Auswahl der zu spielenden Songs liege allein in seiner Hand. Ein repräsentativer Querschnitt soll es werden, der Nummern aus der ersten Savatage-Dekade wie ›Sirens‹, ›Hall Of The Mountain King‹, ›Gutter Ballet‹ oder ›Jesus Saves‹ ebenso beinhaltet wie Stoff der späteren Alben. »Natürlich gibt es Publikumslieblinge wie ›Chance‹ oder ›Edge Of Thorns‹, die wir nicht weglassen werden. Aber ich habe auch einige Überraschungen in petto, mit denen bestimmt niemand rechnet. Die Proben werden heftig für die Jungs, weil ich sie mit einer Liste von knapp dreißig Songs quälen werde«, lacht der Chef. »Vor allem Zak wird sich auf der Tour schonen müssen, denn er wird jeden Abend ganz schön gefordert. Aber so sehr es mich auch wurmt, dass ich nicht dabei sein kann: Ich weiß, dass die Jungs auch ohne mich einen tollen Job machen werden!«
Das Vermächtnis der Oliva-Brüder
Mit Bassist Johnny Lee Middleton, Sänger Zak Stevens, den Gitarristen Chris Caffery und Al Pitrelli sowie Schlagzeuger Jeff Plate sind die Musiker der Savatage-Besetzung der späten Neunziger an Bord, die allesamt auch als Mitglieder des Trans-Siberian Orchestra Erfolge feiern. Besonders für Oliva, Middleton und Caffery geht es auch darum, das musikalische Erbe von Gitarrist und Songwriter Criss Oliva zu ehren, der am 17. Oktober 1993 bei einem unverschuldeten Autounfall im Alter von nur 30 Jahren den Tod fand. Obwohl Criss Oliva zu Lebzeiten außerhalb der Savatage-Fanbasis nur wenig bekannt war und etwa in einschlägigen Gitarrenmagazinen kaum vorkam, ist sein Ansehen in den drei Dekaden, die seit seinem viel zu frühen Tod vergangen sind, stetig gewachsen.
»Ich glaube nicht, dass Criss unterschätzt wurde, aber er wurde sehr oft übersehen, weil er ein ruhiger, normaler Typ war, der dem Ruhm nicht hinterhergerannt ist«, sinniert Chris Caffery, der erstmals 1987 auf der gemeinsamen Tournee mit Dio und Megadeth neben Oliva spielte. »Damals war ich ein junger Kerl, der in Criss eher den großen Bruder und Kumpel gesehen hat, ohne wirklich zu erkennen, was für eine Brillanz und Magie sein Spiel innehatte. Auch heutige Kids entdecken Criss noch immer für sich, stöbern durch die Alben der Metal-Geschichte und bleiben irgendwann bei Savatage und seinen Songs hängen. Ich erlebe sehr oft, wie viel Achtung Criss von einer neuen Generation entgegengebracht wird. Genau wie Eddie Van Halen, Yngwie Malmsteen, Randy Rhoads oder Dimebag besaß er das Wertvollste, was einen Gitarristen ausmacht: einen ganz eigenen, urtypischen Sound, an dem man ihn sofort erkennen konnte. Und das lag nicht an seinen Verstärkern, den Boxen, den Effekten, seinen Metallplektren, den Saiten oder den Gitarren. Es war nicht die Anlage, sondern schlicht er selbst. Sein Kopf, sein Herz, seine Seele und all die Jahre, die er damit verbracht hatte, seinen eigenen Stil zu entwickeln.«
Raum für Emotionen
Zum besonderen Talent Criss Olivas gehörte nicht nur sein schneidender Sound und sein filigranes Spiel, das er nie der Perfektion unterordnete. Auch die für die damalige Zeit seltene Fähigkeit, nicht nur rasant durch die Noten zu galoppieren, sondern in begnadeten Soloparts von Stücken wie ›Believe‹ oder ›Ghost In The Ruins‹ auch Raum für Emotionen zu lassen, stellt ihn in eine Reihe mit seinen Vorbildern Michael Schenker, Uli Jon Roth oder Ritchie Blackmore. Dabei trat der auch über eine packende Bühnenpräsenz verfügende Oliva bei allem Selbstbewusstsein nie großspurig auf, wie der 1986 zu Savatage gestoßene Johnny Lee Middleton betont.
»Ich vermisse ihn noch immer, einfach weil er so ein liebenswerter Mensch war, der nie ein schlechtes Wort über andere verlor. Er war auch kein Angeber, der Konkurrenten mit seinem musikalischen Können beeindrucken wollte. Criss hat einfach nur gespielt und hatte wohl selbst keine Ahnung davon, wie unglaublich gut er darin war. Die Olivas besaßen keine musikalische Ausbildung. Ich war der einzige, der Noten lesen konnte, weil ich schon in der Mittelschule Trompete gelernt habe und später in der High School bei der dortigen Jazzkapelle war. Bei Savatage wusste niemand, in welcher Tonart wir überhaupt spielten. Für Criss war es einfach der dritte Bund auf der fetten Saite — los geht’s! Er hatte keine Ahnung von Musiktheorie, sondern hat sich schlicht die Gitarre geschnappt und instinktiv gewusst, was gut klingt und was er spielen musste«, begeistert sich der Bassist.
»Die Musik floss einfach aus ihm heraus. Ein echtes Genie, und noch längst nicht in voller Blüte, als er aus dem Leben gerissen wurde. Ich selbst kann sagen, dass ich in den mehr als dreißig Jahren seither ein viel besserer Musiker geworden bin. Es wäre interessant zu sehen, welche Höhen Criss noch hätte erklimmen können, wenn man ihm die Zeit dafür gegeben hätte.«
Die ihm verbleibenden Jahre nutzen möchte Jon Oliva, der schon lange an einem neuen Savatage-Album tüftelt, dessen Arbeitstitel er einst als „Curtain Call“ angegeben hat. Vom letzten Vorhang und einem Abschied von der Bühne will der Mann den Strapazen der letzten Jahre zum Trotze aber nichts wissen. »Ich bin ein lausiger Klempner, ich kann nichts anderes als Musik machen! Ehrlich gesagt haben wir schon genug Material für vier Platten geschrieben. Musikalisch ist alles da, nur die Texte fehlen noch, und es liegt natürlich an meiner Verletzung, dass alles vor geraumer Zeit zum Stillstand gekommen ist. Aktuell könnte ich nicht mal ein Geburtstagsständchen singen, ohne furchtbare Schmerzen zu haben. Das frustriert, aber natürlich werde ich weitermachen und auch auf der Platte zusammen mit Zak singen, sobald die Jungs von der Tour zurück sind.«