Für Hoodoo Telemetry brauchte er erheblich länger, als er selbst gedacht hätte, erzählt der Gitarrist. Entstanden sei letztlich ein kaleidoskopisches Album, das ganz seinem unruhigen Geist entspricht. »Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um ernsthaft an dieser Platte zu arbeiten, weil ich immer wieder überlegen musste, was ich als Nächstes machen wollte und wie ich meine Zeit mit diesem und all meinen anderen Projekten einteilen könnte. Es hat sehr lange gedauert, bis ich den richtigen Fokus gefunden habe für Hoodoo Telemetry.«
Die erste Auskopplung aus der Platte ist ›The Haunting‹: Eine Nummer, die als psychedelisch vernebelter Tribut an den 2016 verstorbenen Prince gehört werden könnte:
Wer die Karriere des 66-jährigen Funk-, Fusion- und Avantgarde-Künstlers über die Jahre hinweg zumindest ein bisschen mitverfolgt hat, wird sich nicht weiter über die Bandbreite der neuen Songsammlung wundern. Hoodoo Telemetry, das am 3. Oktober erscheinen wird, ist ein buntes Geflecht aus diversen Stilen und verschiedener Kollaborateure. Und selbstverständlich ist es eine reflektorische Platte, die soziopolitischen Protest, Energie und Chaos gleichermaßen in sich trägt. »Alles, was ich tue, ist ein Protest der einen oder anderen Art. Ich liebe seit jeher die unterschiedlichsten Arten von Musik. James Brown, die Band Of Gypsys oin Jimi Hendrix, Sly and the Family Stone, Cream. Die Psychedelic-Bewegung und der elektronische Miles Davis! Das waren Leute, die immer wieder einen neuen Mindset für ihre Musik gesucht haben und sich musikalisch herausgefordert haben. Mir gefiel schon immer die Idee, als Musiker alles zu riskieren, um sich zu wandeln und sich zu verändern.«
Auch mit Living Colour verfolgt er diese Idee mit Vorliebe. Mit ihrem dritten Album Stain hätten die Amerikaner 1993 die Avantgarde für sich entdeckt, heißt es immer wieder. Dabei war ihr zweites (Time’s Up, 1990) trotz zugänglicher MTV-Hits wie ›Love Rears It’s Ugly Head‹ weitaus fordernder, freakiger und um einiges bunter als Stain, auf dem die in den frühen Achtzigern in New York gegründete Band eine härtere, noch politischere und dunklere Seite von sich präsentierte. Wie viele andere aus farbigen Musikern bestehende Rock-Gruppen ihrer Zeit haben auch Living Colour lange darum kämpfen müssen, in der von Diskriminierung und institutionellem Rassismus durchsetzten Musik- und Unterhaltungsbranche auf breiter Ebene Gehör zu finden. Als Reaktion initiierte Gitarrist Vernon Reid die bis heute aktive Black Rock Coalition, die sich der Förderung schwarzer Musiker verschrieben hat.
Nicht zuletzt Mick Jagger ist es zu verdanken, dass Living Colour doch noch auf dem Mainstream-Radar auftauchten. Erst ließ er den begnadeten Reid auf seinem zweiten Solo-Album Primitive Cool (1987) spielen, wenig später produzierte er ihre erste LP Vivid (1988) und nahm die New Yorker mit auf die Steel Wheels-Tournee der Rolling Stones. Platten wie Mother’s Milk (Red Hot Chili Peppers) oder The Real Thing (Faith No More) mögen auf ihre Weise als Katalysator der neuen Funk-Metal-Welle gedient haben. Die aparte Substanz aber, die Living Colour in ihrem Schmelztiegel aus R&B, Funk, Jazzfusion, Hardrock und Metal verkochten, erreichten sie allerdings ebenso wenig wie die Haltbarkeit griffiger Stücke wie ›Cult Of Personality‹, ›Desperate People‹, ›Glamour Boys‹ oder der Talking-Heads-Interpretation ›Memories Can’t Wait‹.
Besonders gut gealtert ist Stain, auf dem sich der Frust über den bigotten Umgang mit Living Colour als „Black-Rock“-Band entlud, die Bassist Muzz Skillings zum Ausstieg bewegte: Auf dem Album ist zum ersten Mal sein Nachfolger Doug Wimbish zu hören. Die Songs wirken bei aller ungebrochenen Originalität pessimistischer, härter, voluminöser und kompakter und leben einmal mehr von der trickreich-wuchtigen Rhythmusarbeit und der noisig-experimentellen Fusion-Gitarre Reids, dessen Einfluss auf spätere Gitarrenrevoluzzer wie Tom Morello (Rage Against The Machine) nur schwer zu überhören ist. ›Leave It Alone‹, ›Ignorance Is Bliss‹, ›Bi‹, ›Ausländer‹, ›Never Satisfied‹ und die Slap-Bass-Keule ›Wall‹ sind neue Klassiker in ihrem Repertoire; die Funk-Metal-Avantgardisten hingegen schlagen speziell im letzten Drittel durch: Im sphärisch-melodischen ›Nothingness‹ voller Gitarrensynthesizer scheint David Bowie mitzumischen. ›Wtff‹ ist ein Hip-Hop-Groove-Gitarren-Instrumental. Und das heftige Metal-Funk-Inferno ›This Little Pig‹ dürfte einem Musiker wie Scott Ian (Anthrax) noch heute aus der Seele sprechen.