Amorphis

Reise ins Ungewisse

Längst gehören Amorphis zu den spannendsten Vertretern des modernen Progressive-Metal. Halo ist ihr bis dato kontrastreichstes Werk, das einprägsame Melodien und wendungsreiche Instrumentalpassagen formvollendet mit nordischer Melancholie verbindet.

TEXT: MAXIMILIAN BLOM |FOTO: Atomic Fire Records

In ihrer nun über dreißig Jahre währenden Karriere haben die Finnen ihrem Bandnamen alle Ehre gemacht. Amorphis leitet sich ab vom griechischen Wort ámorphos, deutsch etwa: ohne feste Gestalt. Anfang der neunziger Jahre starteten sie als anspruchsvolle Death-Metal-Formation, experimentierten aber schon ab ihrem folgenschweren zweiten Album Tales From A Thousand Lakes (1994) mit Klargesang. Um die Jahrtausendwende sind sämtliche extremen Geschmacksnoten verschwunden; auf Platten wie Am Universum (2001) testen sie stattdessen den Spagat zwischen progressivem Rock der Siebziger und zeitgenössischen Paradise Lost.

Mittlerweile scheint das sechsköpfige Gespann seine Klangwelt gefunden zu haben. Scheinbar spielend verbinden sich in der Musik Gegensätze wie Growling und zerbrechlicher Klargesang oder sägende Gitarren und zarte Akustikinstrumente zu einem komplexen, gern wehmütigen Ganzen, das seine Wirkung organisch entfaltet.

Ihr jüngstes Album Halo erweckt den Eindruck einer konzertierten Idee. Was Keyboarder Santeri Kallio zurückweist: »Bevor wir uns zu den Sessions treffen, sprechen wir intern überhaupt nicht über unsere Songideen oder spielen sie uns gar vor. Daher ist die Überraschung immer groß, wenn wir uns unsere Demos vorstellen. Dass sich bestimmte Stilmittel durchziehen, liegt vielmehr an der Stimmung in der Band und an gemeinsamen Erlebnissen. Außerdem wissen wir mittlerweile sehr genau, wie unser Produzent arbeitet und dass er auch komplexe Ideen zum Leben erwecken kann.«


 


Besagter Studiofachmann ist der Schwede Jens Borgren, in dessen Vita Referenzen wie Opeth, Kreator und Arch Enemy stehen. Seit ihn Amorphis zu ihrer vorletzten Platte Under The Red Cloud (2015) erstmals verpflichteten, ist er zu einem integralen Bestandteil der Gruppe geworden. Er wacht nicht nur über die Aufnahmen und das Mixing, sondern zeichnet auch für sämtliche Arrangements verantwortlich und trifft die endgültige Songauswahl. Sein Einfluss reicht so weit, dass Kallio ihn als eine Art siebtes Bandmitglied bezeichnet.

»Wenn ich Songs schreibe, gebe ich beispielsweise schon einige Orchestermelodien mit. Jens greift diese auf uns lässt sie dann von einem Fachmann orchestrieren. Trotzdem ist er immer wieder für eine Überraschung gut. Für unser letztes Album Queen Of Time hat er etwa diese aufwendigen Chorarrangements erstellen lassen, über die wir seinerzeit schon gestaunt haben.«



Gegenüber dem Bombast des Vorgängers wirkt Halo härter und entschlackter, gleichwohl bilden auch hier symphonische Instrumente und effektvoller Chorgesang eine zusätzliche Ebene. Oder sie tragen ein Stück gleich maßgeblich mit: Die von Frontmann Tomi Joutsen und der schwedischen Sängerin Petronella Nettermalm herzergreifend gesungene Ballade ›My Name Is Night‹ verdankt ihren Charakter vor allem den Streichern. Ursprünglich stammt sie noch aus den Sessions zu Under The Red Cloud.

»Wenn ein Song einmal Teil einer Vorproduktion war, tragen wir ihn den anderen normalerweise nicht nochmal an. ›My Name Is Night‹ wurde damals von Jens aussortiert, er war allerdings seinerzeit auch noch nicht in der heutigen Form. Ich bin daher sehr froh, dass unser Gitarrist Tomi Koivusaari den Mut hatte, ihn noch ein zweites Mal vorzuschlagen. Er ist wirklich ein toller Abschluss für die Platte.«



Inhaltliche Grundlage bildet auf Halo zum wiederholten Male die Kalevala. Bereits auf ihren frühen Werken nutzten Amorphis das finnische Nationalepos sowie die Liedersammlung Kanteletar als textliche Basis. Seit Silent Waters (2007) obliegt es dem Dichter Pekka Kainulainen, anhand jener Bücher die bewusst poetischen Liedtexte beizusteuern.

Ein elementares Narrativ auf Halo ist, etwa in ›Northwards‹ und ›A New Land‹, die Reise ins Unbekannte und das Erschaffen von etwas Neuem an dessen Ende. Kallio stimmt zu: »Das sehe ich genauso. Es repräsentiert unseren aktuellen Status perfekt. Mit Olli-Pekka Laine ist seit 2017 wieder unser ursprünglicher Bassist mit an Bord. Auch wenn er bereits auf Queen Of Time zu hören ist, war er nun erstmals Teil des kompletten Entstehungsprozesses. Generell kommen wir voran und haben das Gefühl, neue Territorien zu erkunden.«

Wieder unterwegs zu sein und vor Publikum zu spielen, ist für den seit 1999 bei Amorphis aktiven Tastenmann daher wenig überraschend der große Wunsch für 2022. »Wir wollen die Band mit jeder Platte ein bisschen größer machen. Außerdem haben wir die neuen Nummern bis jetzt noch nicht in ihrer endgültigen Form gemeinsam gespielt. Für mich ist das der Moment, im dem ein Lied wirklich zum Leben erwacht.«


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