Joanne Shaw Taylor

Eine Frau, die keine Fehler vertuscht

So befreit klang die in Detroit lebende Britin Joanne Shaw Taylor noch nie: Ihr zwischen Blues, Rock und Soul changierendes sechste Album Reckless Heart vereint das lodernde Feuer und die unbändige Seele einer Musikerin im Aufwind.

Dezember 2018. Die aus England stammende Sängerin und Gitarristin Joanne Shaw Taylor hat von Gastgeber Warren Haynes erstmals eine Einladung zu seinem alljährlichen Christmas Jam erhalten — einem Event, das seit dreißig Jahren in Asheville im US-Bundestaat North Carolina ausgetragen wird, der Heimatstadt des schwergewichtigen Gitarristen. Was damals als überschaubare Benefizveranstaltung begann, gilt heute als Gipfeltreffen der Jam-Rock-Kultur und erstreckt sich über mehrere Tage. Die Besetzung ist wie immer hochkarätig: Foo Fighters-Frontmann Dave Grohl ist gekommen, um seine 23-minütige Instrumentalkomposition ›Play‹ uraufzuführen. Warren Haynes betritt mit Gov’t Mule die Bühne. Jim James (My Morning Jacket), Alain Johannes (Queens Of The Stone Age) und der allgegenwärtige Bluesrocker Joe Bonamassa gehören ebenfalls zur versammelten Gitarrenprominenz.

Shaw Taylor darf in Asheville gleich zwei Mal auf kleineren Nebenbühnen auftreten. Die positiven Reaktionen des Publikums, der Presse und auch ihrer Mitmusiker auf ihren Auftritt stellen eine bedeutsame Wegmarke dar: Etwa zehn Jahre nach ihrem Plattendebüt White Sugar ist die Britin längst nicht mehr nur in Blueskreisen eine große Nummer, sondern auch in den exklusiven Club der Rockelite aufgenommen worden. Nicht übel für eine Musikerin, die ihre Gitarrentechnik erst neulich als ziemlich schlecht bezeichnete.

»Vielleicht bin ich da mit mir selbst ein wenig zu hart umgegangen«, revidiert Shaw Taylor ihre ursprüngliche Interview-Aussage. »Meine Art Gitarre zu spielen, ist sicher eher unkonventionell und steht so gewiss in keinem Lehrbuch. Aber: Sie reicht aus, um mich auf diesem Instrument auszudrücken. Und genau das ist es, was mich am Blues so fasziniert. Ich hatte als Kind zunächst Klassische Gitarre gelernt. Dann habe ich Albert Collins entdeckt, der die E-Gitarre auf seine ganz eigene Art und Weise gespielt hat. Er hat einen seltenen Griff mit Daumen und Zeigefinger benutzt, der normalerweise zum akustischen Country-Blues gepasst hätte. Er spielte zudem in der offenen F-Moll-Stimmung, was sonst kein Bluesgitarrist tut. Sein Klang war göttlich! Er klang wie Albert Collins und sonst niemand. Das liebe ich am Blues. Alles ist in ihm möglich.«



Dieser Satz passt gut zu der strebsamen Künstlerin, die scheinbar schon immer für die große Bühne bestimmt war. Eurythmics-Gründer Dave Stewart wird auf die 1986 in der Nähe von Birmingham geborene Shaw Taylor aufmerksam, als sie gerade mal 16 ist und rekrutiert die Newcomerin als Gitarristin für sein Projekt D.U.P. Der Job wie das Projekt selbst ist zwar nur von kurzer Dauer, katapultiert sie jedoch auf die internationale Show-Bühne. Mit Anfang zwanzig unterschreibt sie ihren ersten Plattenvertrag als Solokünstlerin und wird mit dem 2008 eingespielten White Sugar auf Anhieb zum Jungstar der Blues-Szene, die sich stets auch um melodiebetonte Lieder bemühte; ihre Singstimme erinnerte in den besten Momenten kurioserweise immer wieder an Eric Martin von Mr. Big.

Die damals schon gefestigte Mischung aus Blues, Rock, Soul und Balladen ist über ihre bisherigen fünf Studioalben hinweg relativ konstant geblieben — wobei sie sich bisweilen offen für Experimente gab. Das in Austin aufgenommene Almost Always Never (2012) führte sie mit Musikern aus Indie-Rock-Kreisen zusammen und fiel bereits deshalb aus der Reihe. Auch das 2016 von Kevin Shirley betreute Projekt Wild brachte einige Überraschungen mit sich, etwa die verblüffend souveräne Interpretation des mehr als fünfzig Jahre alten Liebeslieds ›Wild Is The Wind‹.

Auf ihrem Weg ist Shaw Taylors auffallend explosives Gitarrenspiel stets ihre Visitenkarte und ihr Markenzeichen geblieben. Obgleich die enorme Kraft und Erfindungsgabe darin im Studio bislang nur bedingt zur ganzer Geltung kamen. Wohl deshalb folgte sie nun für Reckless Heart dem Rat ihres neuen Produzenten und guten Freundes Al Sutton und spielte die Platte weitgehend live ein. »Eine Produktion, die rauer klingt, war mir diesmal sehr wichtig«, kommentiert sie Album Nummer sechs. »Ich wollte diese Liveenergie einfangen, die ich spüre, wenn ich auf einer Bühne stehe. Und das bedeutet: Nicht ewig über alles nachdenken und auf keinen Fall alles glattbügeln.«

Hierzu brauchte sie zunächst eine erstklassige Studioband; auch in diesem Punkt verließ sie sich auf die Erfahrung von Sutton, der seit über einem Vierteljahrhundert als Toningenieur und Produzent in Detroit tätig ist und vor allem durch seine langjährige Arbeit mit Kid Rock bekannt wurde und auch die aktuell hoch im Kurs stehenden Classic-Rocker Greta Van Fleet in seiner Obhut hat. »Al hat mich mit den absolut besten Musikern aus dieser Gegend zusammengebracht«, erzählt Shaw Taylor begeistert. »Im Grunde hat er die Hälfte der Rhythmusgruppe von Aretha Franklins Band und die andere Hälfte von Bettye LaVette geholt.«

Die vertrauten Gewohnheiten ihrer eigenen Roadband haben ihrer Meinung nach im Studio nichts zu suchen; vielmehr genießt Shaw Taylor die Begegnungen mit ihr völlig fremden Musikern, weil sie sich davon ein besseres Studioergebnis verspricht. »In diesem Fall hatte ich einfach Glück. Ron Otis ist der wohl beste Drummer, mit dem ich jemals gespielt habe. Einfach fantastisch! Er konnte mir gleich am Anfang blind folgen und hat mich durch sein waghalsiges Spiel ermutigt, Dinge auszuprobieren, die ich mir sonst nicht zugetraut hätte. Das gilt insbesondere für meine Soli. Bassist James Simonson hat schon oft mit Ron im Team gearbeitet und war für uns das bindende Glied.«



Die spürbare Liveatmosphäre und der sehr direkte, unmittelbare Ton der Gitarre (»Al ist kein Fan von Effektpedalen«) mündeten in eine neue Lebendigkeit, mit der sich Reckless Heart deutlich von ihren vorangegangenen Studioproduktionen klar absetzt. Auch textlich erscheinen die neuen Songs überaus menschlich. Dabei beleuchtet Shaw Taylor das Thema des Blues schlechthin: die Liebe. Und zwar von all ihren guten und schlechten Seiten. »Ich werde oft gefragt, wieso ich über fast nichts anderes singe und schreibe. Was soll ich sagen? Ich bin mit dem Blues aufgewachsen. Sich auszukotzen und dabei das seelische Gleichgewicht wieder herzustellen, ist überhaupt der Zweck des Blues. Und nichts kann einen mehr durcheinander bringen als die Liebe. Oder?«

So spiegelt der turbulent rockige Sound von Titeln wie ›Bad Love‹ oder ›Creepin’‹ die Höhen und Tiefen einer intensiven Liebesbeziehung wider, in der sich Shaw Taylor aktuell noch befindet. Mit ›I’ve Been Loving You Too Long‹, einem klassischen Slowblues in Moll (nicht identisch mit der gleichnamigen Soulballade von Otis Redding), bringt sie die zwiespältigen Gefühle für ihren Partner besonders eindringlich zum Ausdruck. Am Ende der Platte, auf dem eher sonnig klingenden ›I’m Only Lonely‹, scheint sie mit den stürmischen Zeiten abgeschlossen und einen inneren Frieden gefunden zu haben.

»Ich glaube nicht, dass ich vor zehn Jahren in der Lage gewesen wäre, einen solchen Song zu schreiben. Mit Anfang dreißig hat man zumindest gelernt, sich in Bezug auf Beziehungen nicht mehr ganz so irrational zu verhalten.« Shaw Taylor erlaubt sich an dieser Stelle ein Lächeln. Überhaupt wirkt sie gelassener als vor einigen Jahren — wie eine Frau, die es nicht nötig hat, ihre Fehler zu vertuschen, weder als Mensch noch als Musikerin. »Es sind schließlich die Makel, die uns ausmachen.«

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