Man kommt ob der schieren Materialmenge kaum mehr hinterher, die mittlerweile in streng getakteter Regelmäßigkeit erscheinenden Boxsets und Neuauflagen zu erforschen und zu erfassen. Verdient haben es die meisten davon: Das Mehr an Zappa-Musik, das sich einem durch unbearbeitetes Session-Material und oftmals wunderbare Jams eröffnet, ist durchaus bereichernd. Der Adressatenkreis von Over-Nite Sensation (50th Anniversary Edition) dürfte einiges größer sein als zuletzt bei Funky Nothingness, denn auf dem 1973 erschienenen Album kanalisierte Zappa die Jazzrock-Extravaganzen der Vorgängeralben Waka/Jawaka und The Grand Wazoo zu einer Sammlung verblüffend kompakter Lieder mit Gesang und famosen Gitarrensoli, die zwar nicht blind den Konventionen des Anfang der Siebziger populären Rock folgen, ihnen aber auch nicht gleich mit dem nackten Hintern ins Gesicht springen. Noch mehr als das in denselben Sessions entstandene Apostrophe (’), das in ›Don’t Eat The Yellow Snow‹ das legendäre Lied über Hundepisse enthält, das Zappa ein Jahr später zum gefürchteten Pop-Star machen sollte, war und ist Over-Nite Sensation aber das fraglos zugänglichste seiner vielen Alben, das sich wohl am besten dazu eignet, als Rocker den Einstieg in die Welt von Frank Zappa zu finden.
›Fifty-Fifty‹ und ›Zomby Woof‹ tragen einiges von dem theatralischen Irrsinn der alten Alice Cooper Band in sich, wobei gerade letztere Nummer auch den Jazz nicht außen vorlässt. Die erste Single-Auskopplung ›I’m The Slime‹ (eine beißende Medienkritik) stülpt schließlich doch noch den Freak-Zappa nach außen, echte Ohrwurmqualitäten haben vor allem das famose ›Camarillo Brillo‹, ›Dirty Love‹ und mit Abstrichen ›Dinah-Moe Humm‹. Überhaupt gibt es auf Over-Nite Sensation so manche Textgeschichte über Geschlechtsverkehr und Orgasmen, mit denen Zappa lustvoll gegen das prüde Amerika stichelt. Auch ›Montana‹ entwickelt sich im Songverlauf zu einer lässigen Angelegenheit: Die Chorgesänge stammen von Tina Turner und den Ikettes. Toll ist auch die weniger überzeichnete Fassung im „Bolic Take-Home Mix“, in dem sich Zappa gemeinsam mit Bassist Tom Fowler, Keyboarder George Duke und Schlagzeuger Ralph Humphrey ganz dem coolen Funk- und Soul-Groove hingibt — die Bläser Bruce Fowler und Sal Marquez haben hier ebenso Pause wie Jean-Luc Ponty an der Geige. Im instrumentalen Goldstück ›Fifty-Fifty (Basic Tracks, Take 7)‹ mischt er umso präsenter mit: eine groovende Jazzrock- und Funk-Abfahrt mit glühendem Clavinett. Tolle Live-Aufnahmen runden das vier CDs sowie eine Blu-ray Audio umfassende Set ab: Alleine schon ›The Curse Of The Zomboids (I’m The Slime)‹, das am 23. März 1973 Hollywood mitgeschnitten wurde, ist mit seinem herrlichen Jam-Ausritt ein Fest für die Ohren.
Album: 9,5