Es scheint fast so, als habe die Arbeit an The Mandrake Project (2024) Bruce Dickinson sein eigenes Solo-Werk wieder näher gebracht: Zunächst beschäftigte er sich der Frontmann von Iron Maiden intensiv mit neuen Dolby-Atmos-Mixen seiner Alleingänge — bis in ihm immer hartnäckiger der Wunsch drängte, sich gerade Balls To Picasso nochmal dezidiert vorzunehmen, grundlegend zu überarbeiten und um neue Details zu erweitern.
Die Geschichte seines zweiten Solo-Albums, die bis ins Jahr 1990 zurückreicht, haben wir im Rahmen unseres ausführlichen Titel-Specials in ►ROCKS Nr. 99 (02/2024) beleuchtet und ist dort nachzulesen.
Spannend und effektiv ist die Umarbeitung der Platte zu More Balls To Picasso geraten. Das eröffnende ›Cyclops‹ ist noch vergleichsweise subtil umarrangiert: Auffällig sind die neuen Streicher-Flächen des brasilianischen Komponisten Antonio Teoli, die etwa dem Intro eine neue Klangfülle und Dramatik verleihen. Dies geht auf Kosten der ursprünglich sehr prägnanten Rhythmus-Arbeit von Gitarre und Bass, denen durch das vollere Arrangement ein Teil ihrer rhythmischen Durchschlagskraft verloren geht.
Dass sich Mixer Brendan Duffey neben den Gitarren besonders dem Sound des Schlagzeugs angenommen hat, lässt sich in ›Hell No‹ heraushören. Die Snare hat ihre peitschende Härte verloren; heuer fügt sie sich harmonischer und mit leichtem Hall versehen in das buttrigere Gesamtbild des Albums ein. Sie rückt damit näher an das Frequenzspektrum der Tribal-Trommeln heran. Diese waren in den Strophen der Original-Fassung allenfalls zu erahnen, tragen in der More Balls To Picasso-Fassung aber zu einem weitaus komplexeren und vergleichsweise dichten Soundbild bei.
›Gods Of War‹ wird anschließend mit einem Paukenwirbel eröffnet; der vollere Gitarrensound, der sich durch die ganze Neubearbeitung zieht, dezente Orchestereinsätze und ein prominenter in den Mix platzierter Gesang verleihen dem Midtempo-Song eine bisher neue epische Qualität.
In ›1000 Points Of Light‹ fällt das neu im im Refrain tanzende Gitarrenlick auf, während ›Laughing In The Hiding Bush‹ einen ausgesprochen brachialen Gitarrensound spendiert bekommen hat, der die Nummer nun noch wesentlich aggressiver wirken lässt.
Deutlich orchestral angefettet ist indes ›Change Of Heart‹: Statt der ausgesprochen intimen Stimmung der Ausführung von 1994 umweht die Nummer rund dreißig Jahre später ein theatralischer Flair, der etwa auch Avantasia gut zu Gesicht stehen würde.
Unter Mitwirkung einer Bläsersektion des Berklee College Of Music hat ›Shoot All The Clowns‹ die wohl deutlichste Überarbeitung erfahren und eines der Highlights von More Balls To Picasso geworden. Die Trompeten, Posaunen und Tuben machen aus dem im Vergleich geradezu dezent funkigen Nummer ein Donnergebräu aus Soul, Funk und Metal, das in seiner Anmutung der Ghost-Nummer ›Twenties‹ nicht gänzlich unähnlich ist.
›Fire‹ ist danach eine kleine Verschnaufpause; hier sind vor allem der deutlicher hörbare Chorgesang im Refrain sowie die Orgel- und Gesangseinwürfe in der Bridge zu erwähnen.
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Anders als zum Beispiel bei ›Gods Of War‹ rückt der Gesang beim aparten Rap-Metal-Song ›Sacred Cowboys‹ im Mix etwas weiter nach hinten; auch die Rhythmus-Elemente sind in der neuen Fassung weniger prominent eingesetzt. Dafür unterstützt eine saftige Lead-Gitarre die erhabene Chorus-Melodie.
Zum Pathos-geladenen Abschluss ›Tears Of A Dragon‹ kehren noch einmal im ganz großen Stil die Streicher zurück: Intensiver noch als bei ›Change Of Heart‹ verleihen erhabene Streicher-Spuren der Nummer ein neues Level an Opulenz und eine weitere Ebene.
Als Bonustracks sind More Balls To Picasso ›Gods Of War‹ und ›Shoot All The Clowns‹ zudem als Live-Einspielungen aus dem Studio angehängt. Reduziert von allem Studio-Bombast beeindruckt bei ersterem vor allem die von Tanya O'Callaghan mitreißend intonierte, wendige Basslinie; bei letzterem interpretiert Dickinson seine Gesangslinie mit einem beinahe furchterregenden Wahnsinn in der Stimme.
Unter dem Strich entlockt More Balls To Picasso den Stücke bisher ungeahnte Qualitäten und bedient sich einer Produktions-Ästhetik, die in vielerlei Hinsicht zeitgenössischer wirkt als als das gerade im direkten Vergleich sehr stark reduziert wirkende Original aus dem Jahr 1994. Welche Version man bevorzugt, hängt sicherlich von den eigenen Präferenzen ab — aufregend, gut und im Wortsinne merkwürdig ist Idee wie Ausführung von More Balls To Picasso aber in jedem Fall.
Die Titelliste von More Balls To Picasso:
01. Cyclops
02. Hell No
03. Gods Of War
04. 1000 Points Of Light
05. Laughing In The Hiding Bush
06. Change Of Heart
07. Shoot All The Clowns
08. Fire
09. Sacred Cowboys
10. Tears Of The Dragon
11. Gods Of War (Live in the Studio)
12. Shoot All the Clowns (Live in the Studio)