Mehrere aufeinanderfolgende Alben in derselben Besetzung — das gab es bei Victory zuletzt Anfang der neunziger Jahre. Von den Musikern, die damals die Bandklassiker Culture Killed The Native (1989), Temples Of Gold (1990) und You Bought It – You Name It (1992) einspielten, ist freilich nur noch Herman Frank an Bord. Der seit langem in Hannover lebende Musiker ist als Hauptkomponist und Produzent heuer der kreative Kopf der 1984 aus Fargo hervorgegangenen Formation. Der 65-Jährige zeigt sich ungemein begeistert davon, wie er und seine Mitmusiker — Sänger Gianni Pontillo, Gitarrist Mike Pesin, Bassist Malte Burkert und Schlagzeuger Michael Stein — seit dem Start der jüngsten Inkarnation 2021 zusammengewachsen sind.
»Dadurch war es viel einfacher, die Jungs auf das richtige Energielevel für die Platte zu bringen. Wir klingen rotziger und frecher, fast wie bei einer Live-Aufnahme. Das kommt auch durch die Konzerte, die wir gemeinsam gespielt haben: Ich habe den Jungs Feuer unter dem Hintern gemacht. Es muss brennen! Besonders die Rhythmusgruppe hat das verinnerlicht und spielt nach vorne. Da ist jetzt mehr Zug drin. Ich liebe es, wenn Gitarre, Bass und Schlagzeug ein kleines bisschen vor dem Takt spielen, dann zündet ein Song erst richtig! Laid-back ist etwas für Anfänger, finde ich. Das gibt es nur deshalb, weil der Trommler nicht hinter den Gitarren herkommt.«
In dieser Präferenz liegt neben seinem Talent für griffige wie mitreißende Riffs vielleicht eins der Geheimnisse für Franks unverkennbaren Stil, den er gleichwohl überlegt an die Band anpasst, mit der er gerade musiziert. Neben Victory betreibt er seine dem Metal verpflichtete Solo-Band sowie die Iron Allies mit Sänger David Reece — ebenso wie der Gitarrist einstmals bei Accept. Trotz desselben Komponisten und teilweise der gleichen Musiker — Mike Pesin spielt beispielsweise in allen drei Gruppen — sind die Unterschiede stets erkennbar. Um das zu gewährleisten, fokussiert sich der gebürtige Franke während der Kompositionsphase ganz auf das jeweils aktuelle Projekt.
»Es geht nicht anders. Wenn es ein neues Victory-Album gibt, erwarten die Fans sozusagen die grünen Gummistiefel, in denen die Band schon immer gelaufen ist. Da kann ich nicht mit einer Power-Metal-Nummer um die Ecke kommen. Ebenso wenig kann ich einen Rock’n’Roll-Song wie ›American Girl‹ bei Herman Frank bringen. Victory ist grooviger angelegt und sanfter in den Melodien. Bei den Stücken muss einfach irgendwann der Kopf von selbst anfangen, zu nicken. Trotzdem gibt es auch Nummern, die grundsätzlich bei beiden Bands funktionieren würden: ›Surrender My Heart‹ ist so ein Fall. Der Arbeitstitel war ›Ramfire‹ — das Wort habe ich mir ausgedacht, weil es vom Klang gut passte. Gianni hat dann einen neuen Text geschrieben, mit dem ursprünglichen Demo-Text klang es noch metallischer. Aber wir hatten immer auch schnellere und härtere Songs wie zum Beispiel ›Hit And Run‹ von Don’t Get Mad… Get Even, daher passt das schon.«
Gerade im Vergleich zu seinem direkten Vorgänger Gods Of Tomorrow (2021) ist Circle Of Life die etwas forschere Songsammlung, für die der Gitarrist auch in die Trickkiste des Metal gegriffen hat: Sowohl das eröffnende ›Tonight We Rock‹ als auch das stampfende ›Unbelievable World‹ schrieb er im sogenannten Dropped-D-Tuning, bei dem die tiefe E-Saite einen ganzen Ton nach unten gestimmt wird — allerdings nicht aus stilistischen, sondern vornehmlich pragmatischen Gründen. »Wir haben mit ›Temples Of Gold‹ bisher nur einen Song in dieser Stimmung im Live-Programm. Dafür umzustimmen oder die Gitarre zu wechseln, hält die ganze Show auf, also habe ich die Nummern speziell dafür geschrieben. Gerade ›Unbelievable World‹ liebe ich sehr! Wenn es nach mir geht, spielen wir den Song auf der nächsten Tour gleich zur Eröffnung.«
Wie auch das Album steht die im Herbst stattfindende Rundreise unter dem Motto Circle Of Life — was für Herman Frank mehr als nur der Titel einer neuen Platte ist. Bereits seit Jahren trägt er die Zeile mit sich herum; die Inspiration dazu fand er in seiner eigenen Biografie und bei seiner Schwiegermutter: Rune Mields ist eine bekannte bildende Künstlerin, deren Werke etwa schon bei der documenta zu sehen waren, der bedeutendsten Ausstellungsreihe für zeitgenössische Kunst. Eins ihrer Themen sind mathematische Symbole; das Cover des Albums zeigt eine philosophische Rechenaufgabe von ihr. Diese beginnt mit der Ziffer 0 und zeigt dann abwechselnd Rechensymbole und die Ziffer 1. Der Grafiker Oleg Scherbakow hat dieses Motiv in ein passendes Umfeld eingearbeitet: eine Uhr, deren Zeiger Gitarrenhälse sind.
»Dieser Zahlenkreis symbolisiert das Leben«, erklärt Frank. »Jeder Mensch beginnt bei 0, arbeitet sich durch positive Erlebnisse und Taten auf die 1 hoch oder erleidet Schicksalsschläge, die etwa durch das Minus- oder das Divisionszeichen symbolisiert werden. Wichtig ist letztendlich: Wenn deine Lebensuhr auf kurz vor Zwölf ist, du also kurz vor dem Tod stehst, dann solltest du auf der 1 stehen. Darin habe ich mich selbst wiedergefunden. Weil meine Schwiegermutter das Copyright auf diesen Zahlenkreis hält, habe ich sie lieb gefragt, ob ich ihn für das Cover nutzen darf. Das hat sie mir erlaubt.« Allerdings nur unter einer Bedingung, wie er lachend nachschiebt: »Sie möchte ein Belegexemplar. Das bekommt sie natürlich!«
Dieser Text stammt aus ►ROCKS Nr. 102 (05/2024).