Trotz gegenteiliger Beteuerungen war die Trennung von Drummer Mike Portnoy ein Einschnitt, den die Progressive-Metal-Pioniere nur mit großer Mühe kompensieren konnten: Dream Theater (2013) wirkte zuletzt weitgehend konstruiert und leidenschaftslos — und das kontrovers aufgenommenen Prog-Oper-Doppelalbum The Astonishing spaltet und erregt bis heute die Gemüter mit all seinem Orchester-Bombast und Musical-Drama. Distance Over Time ist erfreulich anders. Konkret äußert sich das in der Abkehr von allzu formelhafter Selbstverwaltung: Hier ist eine Band zu hören, die hörbar Spaß hat an dem was sie tut und beinahe danach klingt, als wäre sie auf Tuchfühlung mit ihrer Frühphase gegangen — so unverkopft und befreit wie auf dieser mit 57 Minuten überraschend kurzen Scheibe haben sich Dream Theater seit bald zwei Dekaden nicht mehr gegeben.
Schon das recht harte und trotzdem melodische ›Untethered Angel‹ kommt aufreizend direkt zum Punkt und zum Refrain. Kein Überhammer, aber ein gelungener Einstieg, der signalisiert: Hier darf man noch einiges erwarten. ›Paralyzed‹ kombiniert tief grollende Riffs mit Orgel- und lieblichen Keyboard-Passagen und sorgt im luftigen Aufbau dafür, dass man dieser Band endlich wieder gerne zuhört und auf die Finger schaut. Bassist John Myung komponiertes ›Fall Into The Light‹ ist ein nächstes Highlight, in dem Metallica-Gitarren (ein Train Of Thought-Moment) zu einem eleganten Intermezzo aus akustischen und elektrischen Gitarren mit erhabenen Melodien überleiten. Dass die Band erstmals in ihrer Karriere von Anfang bis zum Ende gemeinsam an einem Album arbeitete, zeigt sich besonders in ›Barstool Warrior‹ (mit hübschem Genesis- und Marillion-Pathos und einer Songanmutung, für die zuletzt eher Vanden Plas standen) und ›Out Of Reach‹: Zwei ihrer melodischsten und mit Abstand stärksten Songs (!) seit Ewigkeiten. Hier singt James LaBrie einfach überragend, auch im atemberaubend vielschichtigen Epos ›All Wit’s End‹ macht er eine sehr gute Figur.
Dass Dream Theater noch immer die Meister des technisch anspruchsvollen Frickel-Sounds sind, beweisen sie in ›S2N‹, einer wilden Achterbahn-Fahrt mit eng verzahnten Gitarre-Keyboard-Duellen — das donnernde und immens swingende Schlagzeugspiel von Mike Mangini während John Petruccis Gitarrensolo-Passage ist der reinste Wahn. Auch ›Pale Blue Dot‹ wächst nach einem sphärischen Intro zu einem metallischen, irrsinnig klug arrangierten Monster mit komplizierten jazzigen Breaks. Kein Zweifel: Mit einer geschlossenen Mannschaftsleistung und einer dringend notwendigen Rückbesinnung auf alte Tugenden und Stärken kehren Dream Theater endlich zurück auf den Progressive-Metal-Thron.