Witherfall

Es lebe die Kunst

Mit ihrem Debüt legten Witherfall 2017 eine der eigenständigsten Platten des Jahres im anspruchsvollen Power Metal vor. Dass die Amerikaner in ihrer Kunst keine Kompromisse eingehen, zeigt sich auf Nocturnes And Requiems deutlich.

TEXT: MARTIN RÖMPP |FOTO: Stephanie Cabral

Einfach wollen sie es dem Hörer nicht machen. Auf Nocturnes And Requiems präsentieren Witherfall einen atmosphärischen, technisch beschlagenen Sound, in dem sich Sanctuary und die frühen Nevermore ebenso widerspiegeln wie die Band von King Diamond. »Wir wollten an diese Platte so herangehen, wie es Queen, Led Zeppelin oder Pink Floyd getan hätten«, so der 25-jährige Gitarrenvirtuose Jake Dreyer. »Diesen Bands ging es nicht um einzelne Songs, sondern um Alben, mit denen sie die Hörer herausgefordert haben.«

Vier Jahre ist es her, dass Dreyer gemeinsam mit Sänger Joseph Michael mit der Umsetzung seiner Vision begonnen hat. Gekreuzt haben sich ihre Wege durch ein glückloses Gastspiel bei den instabilen US-Metallern White Wizzard, an das vor allem der Frontmann keine guten Erinnerungen hat. »Es war beschämend«, schüttelt es Michael noch heute bei dem Gedanken an Bandboss Jon Leon, der ihn nach Streitigkeiten auf einer Europatournee öffentlich des Diebstahls beschuldigte. Ein haltloser Vorwurf, der die damalige Besetzung zur Implosion brachte. »Als Jake und ich danach Witherfall gegründet haben, wussten wir, dass wir in unserer Gruppe alles anders machen würden.«



In Adam Sagan (Into Eternity, Circle II Circle) ist schnell ein versierter Schlagzeuger gefunden, der sich auch kreativ einbringt. Anstatt sich aber mit der Suche nach einer festen Besetzung aufzuhalten, zu proben und Konzerte zu spielen, steckt das Trio seine ganze Energie in die Verwirklichung seiner hoch gesteckten Ambitionen. »Wir wollten eine progressivere Metal-Version von Led Zeppelin werden, bei der lange Stücke kein Hindernis sind und wir uns mit den unterschiedlichsten Instrumenten austoben können«, erläutert Dreyer und gibt ein weiteres Beispiel.

»Auf A Night At The Opera wildern Queen durch alle möglichen Territorien und haben trotzdem eine eigene Identität. Das findet man auf heutigen Metalplatten äußerst selten. Meistens klingt da ein Song wie der andere, und darauf hatten wir keinen Bock. Bei Witherfall geht es darum, keinen Regeln zu folgen. Wenn die Leute das progressiv nennen, soll es mir recht sein.«



Dass breitgefächerte Einflüsse und ein offenes Denken ohne künstlerische Scheuklappen ihren Kompositionen gut tun würden, war dem Gitarristen früh klar. Auf eine bestimmte Marschrichtung wollen sich Witherfall jedenfalls nicht festlegen lassen. »Wenn du aus einer breiten Palette musikalischer Vorlieben auswählen kannst, hilft dir das dabei, interessante Songs zu schreiben. Wir sitzen manchmal zusammen und analysieren nur zum Spaß stundenlang eine Mozart-Suite. Diese Leidenschaft für Musik schimmert hoffentlich auch auf unserem Album durch.«

Für die emotionalen Momente sorgt aber Dreyers Faible für die akustische Gitarre, die auch Sänger Joseph Michael inspiriert. »Das Stück ›Nobody Sleeps Here‹ entstand aus so einem ruhigen Teil, das Jake mir vorgespielt hat. Er war sich nicht sicher, ob die Sequenz zu einem Metalsong passen würde, weil sie so unkonventionell war — aber mich hat sein Spiel berührt. Am Ende haben wir daraus ein neunminütiges Stück entwickelt. Würden wir nur nach Riffs suchen, die sich nach anderen Metalbands anhören, würde dieser Song heute nicht existieren.«



Dass Schlagzeuger Adam Sagan die Veröffentlichung des von ihm maßgeblich mitgeprägten Albums nach einer Krebserkrankung nicht mehr erleben durfte, hat bei Dreyer und Michael Spuren hinterlassen. »Wir haben die Platte seinem Andenken gewidmet«, betont der Gitarrist. »Die Produktion war eine Achterbahn der Gefühle. Unsere Trauer verarbeiten wir gerade in neuen Stücken, das kommende Album wird also noch melancholischer und düsterer ausfallen.«


Dieser Text stammt aus ROCKS Nr. 61 (06/2017)

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